ARMIN SCHREIBER |
KUNST-PATERNOSTER |
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Die Geschichte des Bären | ||||||
Die eigenwilligste,
künstlerisch anspruchsvollste Comic-Veröffentlichung des Jahres 2014?
Für mich ohne Frage: Stefano Riccis
Die Geschichte des Bären! Eine
fantastische Story in mehrfacher Hinsicht, initiiert allerdings durch
eine höchst reale Begebenheit: Im Mai 2006 wanderte ein Braunbär aus
Italien nach Norden, tauchte in Bayern auf, wurde als „Bruno“ zum
Medienereignis und bald zum „Problembär“. Nach mehrfach fehlgeschlagenen
Fangversuchen stimmte die Bayerische Staatsregierung der „Maßnahme der
Entnahme des Bären aus der Natur“ zu: Am 26. Juni 2006 wurde „Bruno“
erschossen.
Exakt nach diesem
Schuss tritt in Riccis Fiktion eine Person namens Manfred in
Erscheinung. Wildschweine informieren ihn über einen „halbtoten“ Bären,
der an der Bahnlinie liegt. Sprechende
Wildschweine? Kein Problem, denn zu dem Zeitpunkt ist man
bereits eingetaucht in eine
gänzlich andere Welt. Zwar signalisieren Ortsnamen wie Lüssow, Züssow,
Putbus, daß es sich um real existierende Landschaften
Mecklenburg-Vorpommerns handelt,
die Bruno und Manfred auf ihrer Flucht passieren, allerdings immer
während der Dämmerung, gelegentlich auch nachts bei grellem Mondlicht.
Markante Baumgruppen, Gebäude, Brücken, Gleisanlagen oder die
allgegenwärtigen Hochsitze an den Feldrändern bieten kaum noch
Orientierung. Vielmehr werden sie zu verschlüsselten Zeichen für etwas
Irreal-Bedrohliches, treten in andere, nicht-rationale Beziehungen
zueinander, in die man als Leser – Riccis Strategie – sukzessive
eingebunden wird.
Der "Bär" Bruno
Man
bleibt im Fluidum jener
anderen Welt durch die Wirkung
einer Reihe literarischer Stilmittel: etwa nicht-lineares Erzählen und
die Erweiterung des narrativen Raumes durch das Integrieren von Träumen,
Halluzinationen, Erinnerungen; häufiges Auseinanderdriften von dem, was
die Bilder zeigen und die Texte einer Rückblende oder Abschweifung
vermitteln, die ober- und unterhalb der Panels postiert sind. So
verknüpft sich das aktuelle Geschehen (Brunos Flucht) mit vergleichbaren
Ereignissen aus Riccis Familiengeschichte (die Jagd auf Partisanen, die
Verfolgung der Faschisten nahe Bolognas), zugleich auch mit Begebenheiten
der jüngeren Vergangenheit Mecklenburg-Vorpommerns, wenn etwa Manfred
von fragwürdigen Vorgängen nach der Wende berichtet, während er Brunos
Schußwunde versorgt.
Über die diskrete Engführung von menschlichen und tierischen Lebens- bzw. Leidensmomenten bereitet der Autor das Auftreten von Tieren vor, die bei Stefano Ricci – Folge offensichtlich einer starken Empathie – menschenähnliche Gestalt |
annehmen – und
umgekehrt! Das gilt nicht nur für den Bären Bruno, sondern auch für den
Notarzt im Krankenwagen, der ein Hase ist. Der Fahrer gehört zu den
Primaten.
Riccis Kalkül, das
Licht der begrifflichen Welt runterzudimmen, um dadurch andere, ältere,
tiefer eingelagerte, unbewußt wirkende Komponenten unseres Wahrnehmungs-
und Wertungsgefüges zu aktivieren, geht auf. Distanzschaffende
Klassifizierungen treten zurück; man erlebt nicht, was einem Menschen,
was einem Tier widerfährt, sondern nimmt Anteil am Geschick eines Wesens
schlechthin.
"Wo bringen wir ihn hin?" "Mach dir keine Sorgen. Alles wird gut. Um diese Vorstellung
zu artikulieren: primär deshalb – so scheint mir – erzählt
Stefano Ricci Die Geschichte des Bären. Daß dieses extrem diffizile Vorhaben
gelingt, hängt entscheidend mit der Art der visuellen Umsetzung
zusammen. Die mittels Ölpastellkreide, Leimstift, Transparentpapier und
Wasserfarbe realisierten Waldareale, Gebäude, Tiere und Menschen
erhalten durch die Art seiner Formgebung eine ungewöhnlich starke
Präsenz. Man wird okkupiert von den großartigen, atmosphärisch dichten
doppelseitigen Bildern, die sich festsetzen im Gehirn und auch nach 4
Wochen noch virulent sind. Zeitweilig entsteht die Vorstellung, als habe
Ricci die ästhetische Substanz der Gegenstände und Naturdinge
aufgesogen, sei via Einfühlung ihr Verwandter geworden: Deren
verbal-begriffliche Verschnürungen sind für ihn irrelevant. Die
gestapelten Baumstämme am Wegrand ebenso wie die Schießstände,
Eisenbahnviadukte, alten Trecker, Trabbis oder Holzstege sieht und
versteht er als Ingredienzien einer anderen (poetischen) Welt, und aus
dieser Einsicht heraus stellt er sie dar: Nicht naturalistisch den
optischen Eindruck
wiedergebend, sondern in expressivem Malgestus
konstruktiv, d.h., dem inneren Bild Ausdruck gebend.
"Leb wohl, Manfred, und vielen Dank für alles. Leb wohl, Bruno. Viel Glück." Die Objekte seiner Darstellung verfügen über ein hohes Quantum an Ausdruckskraft. Diese reißt Die Geschichte des Bären mit Vehemenz aus der Sphäre der Kindertümlichkeit. Sie schiebt die Story – auch über die Verschmelzung von Handlung und Landschaft – ins Legendäre, verleiht den Schilderungen eine archetypische Dimension.
"Neueste Untersuchungen haben gezeigt, dass die Cholesterinwerte der Bären..." Und: Sie bleibt
selbst in komischen Momenten wirksam, wenn etwa Manfred – gegen Ende der
Geschichte – von Bruno über die Cholesterinwerte bei Braunbären gerade
in dem Moment informiert werden will, als der in einen Lachs aus der
Kühltruhe beißt. (avant verlag, 2014) |
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