ARMIN SCHREIBER
KUNST-PATERNOSTER
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Jiro Taniguchi: Die Sicht der Dinge
 








Jiro Taniguchi, '"Die Sicht der Dinge"

Definitiv: Nur ein einziges Mal im Verlauf der 278 Seiten, als ein amerikanischer Besatzungssoldat die 85 Yen für die seiner Begleiterin verabreichte Dauerwelle nicht bezahlen will, kommt es in Taniguchis „Die Sicht der Dinge“ zu einer kurzen und gemessen daran, was Mangas alla „Dragon Ball“ diesbezüglich im Angebot haben, geradezu lächerlichen Handgreiflichkeit. „Shut up!“ schreiend packt der GI den Frisör Yamashita am Kragen, weil der auf seinem Recht besteht, womit auf diskrete Weise ein Charakterzug des „Helden“ markiert ist.

Daß Japanische Comics mehr zu bieten haben als lautmalerisch aufgetakeltes Hauen und Stechen im Sekundentakt, zeigte 2002 bereits eine Manga-Ausstellung der Hamburger Deichtorhallen, die u.a. Jiro Taniguchis „Der gehende Mann“ (1992) vorstellte:


Einen Comic ohne Text, der über kontemplative, an Moebius erinnernde Zeichnungen die schrittweise Entdeckung der Schönheiten urbaner Alltagssituationen visualisiert und zugleich eine suggestive Geschichte über das Aufkeimen von Heimatgefühl erzählt.

Inzwischen ist Taniguchi, zunächst nur Insider-Tip, in aller Munde. Nachdem „Vertraute Fremde“ (Japan:1998, Deutschland: 2007) zum besten Comic des Jahres 2007 gekürt wurde, rückte auch „Die Sicht der Dinge“ (Japan: 1994; Deutschland 2008) in den Focus der Aufmerksamkeit: Der Tod des Frisörs Takeshi Yamashita veranlaßt seinen Sohn, den Gafiker Yoichi, in die Heimatstadt zu reisen. Im Verlauf der Trauerfeierlichkeiten werden ihm, ausgelöst durch die Landschaft und die Erzählungen der Verwandten, Momente seiner Kindheit gegenwärtig, Situationen vor allem, die seinem Vater betreffen, den er nun, als Erwachsener, in seiner besondern Eigenart erkennt.

Eingewoben in diese Story ist eine zweite Geschichte, die das Thema von „Der gehende Mann“ noch einmal aufgreift. Zugleich nämlich wird erzählt, wie der etwa 40-jährige Yoichi zu kindlichem Sehen zurückfindet, wie sich seine Sicht der Dinge verändert. Während die magischen Momente, die das Licht (im Frisör-Salon z.B.) oder das Zusammenspiel von Natur und Architektur entstehen lassen, zunächst nur in Rückblenden auftauchen, entfalten sie sich am Schluß auch in Yoichis Gegenwart. Man muß an Henry Moores Bemerkung denken, Kunst sei nichts anderes als der Versuch, die Intensität frühester Erfahrungen wiederzugewinnen! Ein Manga also – neu gesehen und bravourös gezeichnet – über das alte Thema „künstlerisches Sehen“,  über Augenblicke, in denen die pragmatische „Sicht der Dinge“ durch ästhetische Wahrnehmung abgelöst wird.

Kunstzeitung 9/2008

 
       
       
 
 
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