ARMIN SCHREIBER |
KUNST-PATERNOSTER |
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D11: Die “epistemologische Maschine” zu Kassel | ||||||||
Okwui Enwezor (Foto: 2014) Als am 26. November `98 die Findungskommission der
Documenta GmbH bekannt gab, daß ein Afrikaner, der in Nigeria geborene
Okwui Enwezor, als Leiter der 11. Kasseler Mega-Show fungieren sollte,
durfte man sich für ein paar Momente der Vorstellung hingeben, Enwezor
könnte ein, zwei wirkliche Überraschungen in petto haben. Die Entdeckung
etwa, daß jene durch Stilisierung und Konzentration entstehende Form der
Magie, „die zwischen der seltsamen, feindlichen Welt und uns
vermitteln soll“ (Picasso), in den Arbeiten einiger Künstler „seines“
Kontinents tatsächlich zu finden sei, und zwar in neuer, prägnanter,
zukunftsweisender Gestaltung. Und wenn man sich vergegenwärtigt, was
Picassos legendärer Besuch im „Palais du Trocadèro“ (1907), seine
Begegnung also mit afrikanischen Masken und Figuren für ihn und die
Kunst des 20. Jahrhunderts bewirkte: Vielleicht würde Enwezor einen
erneuten Kurzschluß evozieren mit dem Ziel, unserer durch
Selbstbespiegelung und kulturwissenschaftliches Design dominierten
Gegenwartskunst dieses verlorengegangene Element zu reimplantieren? Hirngespinste! Bereits im Vorfeld der 100 Tage
zeigt sich, daß mit einem diesbezüglichen Anstoß kaum zu rechnen ist.
Zwar deuten sich eine Reihe auffälliger Akzentverschiebungen an
(Weltkunst, nicht West-Kunst; Fixierung auf politisch-soziale
Fragestellungen; kulturelle Ethik statt Kommerzialisierung etc.), aber
Sentenzen wie „künstlerische Aktivität kann sich auch in der Diskussion
manifestieren“ geben ein unmißverständliches Signal: An der fatalen
Fokussierung auf Theorie und Diskurs wird sich nichts ändern, im
Gegenteil. Als wollte man dem amerikanischen Kritiker Hilton Kramer, der
schon in den 70er Jahren „ein Gemälde ohne eine dazugehörende Theorie
nicht sehen“ konnte, ein Denkmal errichten und damit zugleich die
Feststellung des deutschen Philosophen Odo Marquard, Kunst sei die
Zuflucht der Theorie, noch einmal ausdrücklich bestätigen, produzieren
auf sog. Plattformen, die ab März 2001 in Wien/Berlin, Neu-Delhi, Santa
Lucia und Lagos errichtet werden, mehr als 60 „ReferentInnen“ -
Soziologen, Juristen, Kunsthistoriker (Künstler sind kaum
dabei!), Psychologen und Linguisten
- in über 90 Präsentationen und Workshops Texte en gros. Die Inhalte? „Demokratie als unvollendeten Prozeß“ lautet der Titel
der ersten Plattform und zur Debatte steht, „was die liberale Demokratie
verspricht, aber nicht erfüllt“, wie Strategien zur Revision oder
Transformation zu denken wären. In Neu-Delhi geht es um „Rechtssysteme
im Wandel und die Prozesse der Wahrheitsfindung und Versöhnung“. In der
Karibik wird über die weltweite kulturelle Durchmischung diskutiert
(„Créolité und Kreolisierung“), die Lagos-Plattform schließlich
behandelt die von Kriminalität, AIDS, Bevölkerungsexplosion und urbanem
Verfall geprägten Lebensbedingungen afrikanischer Großstädte und ihr
Zukunftspotential („Unter Belagerung: Vier afrikanische Städte,
Freetown, Johannesburg, Kinshasa, Lagos“). Die Ergebnisse erscheinen auf über 1000 Seiten in
fünf Aufsatzbänden; wäre es Literatur, gälte das heutzutage schon als
unzumutbar. Hinzu kommen Interviews, die Essays des Hauptkataloges und
Texte des „Short Guide“: Mit Eröffnung der Kasseler Exposition
– zu sehen als fünfte und letzte Plattform – hat die Documenta
ihr primäres Vorhaben, eine „neue Geographie der Kultur“ (Basualdo) zu
initiieren, weitgehend realisiert und außerdem der Kunst eine neue
sogenannte ontologiche Verankerung verpaßt. Während Cathérine David, Kuratorin der Documenta
X, noch am Kunstbegriff herumbasteln und fragen mußte, was diesem Medium
unter den gegebenen Zeitumständen zuzutrauen sei, bestehen diesbezüglich
für Enwezor und sein Team keine Zweifel. Für sie ergibt sich die
Funktion der Kunst nahezu zwangsläufig aus der postkolonialen
Konstellation unserer Gesellschaften: Sie wird ihre Autonomie aufgeben
und sich im Verbund mit „kurzfristig aufblitzenden interdisziplinären
Untersuchungen, transitiven, zufallsbestimmten kognitiven Erkundungen,
verstreuten Interaktionen, imaginären Archiven, epidemiologischen
Statistiken, Fragebögen und Berichten, Wirbeln und Turbulenzen, denen
kein Skript zugrunde liegt“( Maharaj) an der Dekonstruktion tradierter
Bedeutungshierarchien beteiligen und im beginnenden weltweiten Prozeß
einer Neuorientierung maßgeblich engagiert sein: als Teil, „tool“ einer
„epistemologischen Maschine“ zur „knowledge production“. Dabei richtet
sich der Blick auf die Schattenseiten der Globalisierung; auf das
unterdrückte „Andere“, „Ausgeschlossene“, „mundtot Gemachte“. Erfaßt und
archiviert – „Spiegel“ und „Enzyklopädie“ sind Leitbegriffe der
Documenta 11 – wird es zu
Baumaterial für „kunstethische Werkstätten, die Optionen und Potentiale
produzieren, um sich aktiv in den Lauf der Dinge einzumischen.“
Diese poststrukturalistisch akzentuierte
Konzeption ist allgegenwärtig. Sie zeigt sich in der Auswahl der
Künstler (Enwezor: „Ich suche einfach nach Leuten mit Engagement und
künstlerischer Praxis, die reflektieren, was in der Welt vorgeht“) wie
in der Tatsache, daß 70% aller Arbeiten unter Beteiligung der Kuratoren
entstanden sind. Sie prägt die Texte über Künstler und Co-Operativen,
ist präsent in der Ausstellungs-Architektur bis hin zur Anlage
labyrinthischer Gangsysteme, in denen man – umgeben von
Informationsfülle – die Übersicht verliert. Oder mehrfach im gleichen
Raum landet und registriert, wie z.B. die Video-Dokumentation über
Eskimos unterschiedliche Reaktionen auslöst: abhängig davon, ob man
zuvor „Die Bürger von Calais“ (Candida Höfer) oder Ulrike Ottingers
artistischen Eisverkäufer („Südostpassage“) im Blick hatte.
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Durch die Verlegung in den
Ausstellungsraum gibt Ivan Kožarić
(Kroatien) seinem Atelier den Status
einer Installation, mit der das Prozeßhafte künstlerischen Tuns
thematisiert und zugleich „das Konzept retrospektiver Ausstellungen“
kritisiert wird, ein Aspekt, der sich u.a. in Dieter Roths „Große(r)
Tischruine“ oder dem bemerkenswerten Archiv der Iranerin Chohreh
Feyzdjou materialisiert.
Sehr weit gefaßt auch die Documentation dessen,
was die „epistemologische Maschine“ bislang zur Neuorientierung
produziert bzw. an Aktivitäten ausgelöst hat: „Groupe Amos“ (Kinshasa)
z.B. setzt sich auf unterschiedlichen Ebenen für die Gleichberechtigung
der Frauen innerhalb der kongolesischen Gesellschaft ein; „Raqs Media
Collective“ (Neu-Delhi) entwickelt alternative Strategien zur
Informationsverbreitung via Internet. Vorgestellt werden die radikal
demokratischen Planungen der Hamburger Gruppe „Park Fiction“ ebenso wie
die Aktivitäten von “Huit Facettes”, einem Künstler-Kollektiv aus
Senegal, das Dorfbewohnern in „soziokulturellen Kreativitätszentren“
traditionelle kunsthandwerkliche Techniken (Batik, Keramik,
Brandmalerei) wieder vermittelt und damit zur Entwicklung einer neuen
„Art von kollektiver Corporate Identity“ beiträgt: Durchweg interessante
Informationen, die aber gelegentlich – wenn dann jeder Pinselstrich auf
kulturwissenschaftlichem Höchstniveau verbalisiert wird – einen
real-satirischen Touch erhalten.
Bei den Notizbüchern des Dr. Fadi Fakhouri
indessen, die seine Witwe Zainab Fakhouri dankenswerterweise der „Atlas
Group“ zu Informationszwecken aushändigte, vor dieser fiktiven
Documentation des libanesischen Künstlers Walid Ra´ad u.a. über die
Wettleidenschaft libanesischer Historiker, die sich während der
Bürgerkriege zwischen 1975 und 1990 jeden Sonntag beim Pferderennen
trafen, darf man lachen. Hier immerhin kommen –
bei allem Ernst - Ironie, Komik, Witz kurz zum Vorschein, die
sich ansonsten gut versteckt halten.
Unter den Filmen, Videos und Fotoserien gibt es
eine Reihe eindrucksvoller, nachhaltig wirkender Arbeiten: Allan Sekulas
(USA)„Fish Story“ z.B, eine 105 Motive umfassende, aufrührende
Documentation der Arbeitsbedingungen des „maritimen Proletariats“, die
zusätzliche Brisanz erhält angesichts des im Nebengang laufenden Videos
„Hin- und herschwimmender Fisch“ der bereits genannten „Igloolik Isuma
Productions“.
p
Kendel
Geers und David Goldblatt, beide in Südafrika geboren, beschreiben
Johannesburg und über die Fixierung ummauerter Villenviertel, der
bewohnten Müllhalden, der Werkstätten und Kleinstläden im Zentrum etc.
gelingt ihnen ein vielschichtiges Porträt dieser Stadt. Hier wie auch
bei O.O. Osifuye (Nigeria) oder im Film „Of Poetry and Poetics“ des
Inders Amar Kanwar über die Dichtung der Unberührbaren entsteht kompakte
Information, die auch ohne konzeptionellen Beistand das Publikum
erreicht, die man im Prinzip aber auch – Kommentar eines Besuchers –
„über Arte und 3-Sat beziehen kann.“
Was die Malerei betrifft, so ist dieses alte Medium wegen der neuen
ontologischen Verankerung der Kunst nur noch durch ein paar Exponate
vertreten, u.a. mit „Multiple-Site Paintants“, einem freistehenden
Bild-Objekt des in New York lebenden Argentiniers Fabian Marcaccio.
Dargestellt sind unterschiedliche, vielleicht beim Zappen registrierte
Orte und Ereignisse - Großstadt als Satelliten-Aufnahme, chemische
Prozesse, Flucht und Folter in Naheinstellung, Elektronik-Schrott und
Kettenspuren im Sand etc. -, die sich hier, überblendet,
ineinandergeschoben und durchsetzt mit expressiven Gesten greller
Graffitis, zu einem imposanten 70-Meter-Panorama zusammenfügen. Zwar
sind, eingeschmolzen in die
zuvor präparierte Leinwand, auch fotografische Elemente integriert, aber
es ist die Malerei, die über kraftvollen Ausdruck Dynamik und Emotion
ins Bild bringt.
7 Jahre nach der D11: Fabian Marcaccio, "CNN", 2009 Die weiteren Arbeiten sind qualitativ gesehen kaum
von Belang und verdanken ihre Anwesenheit nur einem Umstand: Sie passen
ins Konzept. Und wie die Kuratoren nicht stört, daß die zur Installation
umfunktionierte Werkstatt von Ivan Kožarić
vorwiegend mit Kunst-Klischees bestückt ist, so nehmen sie
billigend in Kauf, wenn das Leiden der Folteropfer –
zu sehen bei Leon Golub - in entwürdigender,
kunstgewerblich-ästhetisierender Manier zum Bild wird. Wieder mal ließe
sich das Ende der Malerei konstatieren. Oder ist sie nur zeitweilig ins
Abseits geraten, weil Enwezor und sein Team zwar, was zu begrüßen ist,
das Fremde, das sich außerhalb der „Westkunst“ artikulierende
unterdrückte Andere deutlich favorisieren, das sperrig-spezifisch
Andere autonomer Malerei jedoch nicht einbinden konnten oder
wollten? Maler, sind auf dieser Documenta die unterdrückte Minderheit,
denn logischerweise findet sich, wo Gemälde wie Querschnitte
mittelalterlicher Kloaken oder Inquisitionsprotokolle primär als Spiegel
gesellschaftlicher Prozesse gesehen werden, kein Platz für Künstler, die
nach langwierigem Formfindungsprozeß neue Sehweisen installiert haben
und auf eigenem Terrain, nicht
funktionalisiert, ihrer „inwendigen Figur“(Dürer), ihren Visionen
folgen. Kann sich die Institution „Kunst“ diese Ausgrenzung auf Dauer
leisten?
Bilder – sie spiegeln nicht Realität,
sondern bringen per Bildsprache das Potential der Realität zum Ausdruck
–, gute Bilder liefern etwas ganz Bestimmtes, was außerhalb des Mediums
nicht zu bekommen ist: die Fixierung nämlich spezifischer Momente der
Wahrnehmung, in denen die Dinge der Welt in komprimierter,
prototypischer Gestalt und Konstellation erscheinen. Bilder ergreifen –
Picassos Magie -
tiefenwirksam den Betrachter durch ästhetische Strategien. Sie evozieren
das sog. Kunst- bzw. Evidenzerlebnis und – auch ohne Kopfstand und
Liegestütz: eine Ausschüttung der prächtigsten Endorphine. Die
Möglichkeit zu existentieller Erfahrung dieser Art
– für sie gibt es kein Äquivalent – sollte man nicht aufs Spiel
setzen. Andererseits steht außer Zweifel, daß die komplexen kulturellen
Erscheinungen und Aktivitäten der „Dritten Welt“ tatsächlich neu zu
sehen und im Gesamtkanon neu zu gewichten sind. Enwezor
inszeniert seine „Documenta als Ausgangspunkt, von dem aus man
weitergehen kann.“ Aber könnte dieser Fortschritt nicht auch über andere
„Repräsentationsfenster“ dargestellt und diskutiert werden, ohne die
Kunst und ihre Infrastruktur des weiteren zu strapazieren?
So, wie sich
die Documenta hier präsentiert, werden die außerordentlich wichtigen
Inhalte, aber auch die Kunst verharmlost.
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