ARMIN SCHREIBER
KUNST-PATERNOSTER
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Rasender Stillstand:  Entschleunigung in Wolfsburg
 


Muhammed Ali vs. Ernie Terrell (4 Sek.)
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Ehrendoktor für Muhamend Ali

Muhammad Ali (2. von links) wird Ehrendoktor der Universität Princeton (2007)

“I'm so fast that, last night, I turned off the light switch in my hotel room and was in bed before the room was dark.” Diese Verlautbarung zum Thema „Zeit   und Raum“ im Vorfeld seines Kampfes gegen Ernie Terrell (1967) katapultierte  Muhammad Ali – World Champion war er schon – blitzartig in unmittelbare Nähe zu „Speedy Gonzales“ und „The Flash“, der abgefeuerte Colt-Kugeln aus der Luft fischen konnte. Unter die Top Ten jener Ikonen des forcierten Tempos also, in denen sich der kollektive Herzenswunsch des 20. Jahrhunderts nach Beschleunigung mit viel Lärm, Staub und langen Bremsspuren spiegelte, wobei  die feinere Klientel eher auf Glenn Gould horchte: Niemandem sonst gingen die Goldberg Variationen so flott von der Hand!

Speedy Gonzales
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Ende der 70er Jahre deutete sich eine Art Paradigmenwechsel an. Auslöser der Gegenbewegung soll – aber Zweifel sind angebracht – jenes ewige „Dalli Dalli“ aus Hans Rosenthals ZDF-Show gewesen sein, das zum geflügelten Wort avancierte, nervte und zu Irritationen auch insofern führte, als gleichzeitig die REFA-Leute mit ihren Stoppuhren verstärkt in den Betrieben auftauchten und den Akkordarbeitern die Zeitvorgaben kürzten. Ebenso ist nicht zu verifizieren, ob Raúl González´ 1978er Weltrekord im 50-Kilometer-Gehen (3:41:20 h) – ein bedenklicher Kurzschluß zwischen Fiction und Faktizität – tatsächlich als Katalysator  gewirkt hat. Und wie verhält es sich mit  Paul Virilios Erfindung (1977) einer neuen wissenschaftlichen Disziplin namens Dromologie  (Lehre der Geschwindigkeit)?

1979 jedenfalls, in einem Buch des Autors Jürgen vom Scheidt über Singles, ist das unselige Wort „Entschleunigung“ erstmals zu lesen, ein Neologismus, der vom Diskurs allerdings nur schleppend adoptiert wurde. Stan Nadolnys Bestseller „Die Entdeckung der Langsamkeit“ (1983), dessen Held John Franklin nur im Slow-Motion-Modus wahrnehmen und handeln kann, änderte daran wenig, zumal sozio-kulturelle Befunde über Hektik und Tempo der Moderne bis in die 90er Jahre stets mit Nadolnys Buchtitel garniert wurden.

Auch bei Prof. Dr. Heintel in Klagenfurt, der 1990 den „Verein zur Verzögerung der Zeit“ gründete, war vom Scheidts Kreation noch nicht angekommen. Selbst die zunehmende Wertschätzung für Plumplori und Faultier, beide Meister der Zeitlupenbewegung, artikulierte sich ohne die neue Sprachschöpfung  – noch!   

Schon 5 Jahre später jedoch wurde sie  – ein Service der SZ  – zum „Hasswort der Woche“. Die „Entschleunigung“ war nicht mehr aufzuhalten und ist mittlerweile in aller Munde, selbst bei den Hersbruckern in Mittelfranken. Hier nämlich macht die Zeit nicht nur, wie Barry Ryan in den 70er Jahren zum Besten gab, vor dem Teufel halt, sondern vor der gesamten Stadt, die sich unter dem Label „Cittaslow“ fortwährend entschleunigt.

Cittaslow 

Weitere Beispiele gefällig? Wie Kirche („Heilige Entschleunigung“) und Küche („Slow Food“) hat auch die Workshop- und Seminarszene das neue Credo dankbar angenommen. Gegen Entrichtung einer etwas höheren Kursgebühr ist sogar „Entschleunigung XXL“ zu erleben. Burnout-Geschädigte sollten allerdings „Dynamische Entschleunigung“ per Einzelcoaching buchen! Mit dem Slogan „Langsam reiten, Cowboy!“ lädt die Slow Sex-Bewegung zum Mitmachen ein. Die Bundeskanzlerin meint am 19.9.11, die Zeitung sei mehr denn je ein Ort der Entschleunigung. In Hamburg verwandeln sich zwei Kommunikationsdesigner für 4 Wochen in ein „Entscheunigungsbüro“. Dentisten entschleunigen die bakterielle Besiedlung der Zahnfleischtaschen. Es gibt, eine Novität, den Beruf des Entschleunigers und der findet sein Auskommen beim „Wellness-Wandern“. Die Zeitschrift „Mobil“ der Deutschen Bahn AG präsentiert die Schauspielerin Heike Makatsch als Entschleunigte  usw. usf.

Nach der „Taidehalli Helsinki“ – die Exposition lief unter dem Motto „SLOW“ – hat sich nun auch das Kunstmuseum Wolfsburg dieser Thematik angenommen und, gesponsert von Volkswagen Financial Services, eine Schau mit dem Titel „Die Kunst der Entschleunigung“ arrangiert. Die trifft laut Presseinformation den Nerv der Zeit und einer ganzen Gesellschaft, was ich durchaus bestätigen kann: Es nervt tatsächlich, wenn ein Kunstmuseum angesichts der Kommunikationsmüllmassen, die im Zuge der Vermarktung des Begriffs bereits entstanden sind, seine Ausstellungsobjekte – ästhetische Gebilde immerhin – in einen derartig kontaminierten Kontext stellt. Schon beim ersten Rundgang jedoch kann man sich, aufgetankt mit Schadenfreude, entspannen: Die Kunstwerke nämlich spielen nicht mit!

Odilon Redon Buddha

Odilon Redon, "Buddha", 1905

In zellenartigen, spärlich ausgeleuchteten „Entschleunigungskuben“ soll dem Besucher, konfrontiert mit speziellen Bildern, das Schneckentempo in die Glieder fahren. Eine Plumplorisierung aber findet nicht statt. „Der Buddha“ des französischen Symbolisten Odilon Redon, Ferdinand Hodlers „Genfer See mit den savoyer Alpen“, Giorgio de Chiricos „Melancholie“ oder Giorgio Morandis kalkfarbige Stillleben lassen sich, was Sujet und Bildtitel auch immer an Assoziationen erlauben, für derartige Dienste nicht einspannen. Ihre Stille, der die Kuratoren auf den Leim gehen, besitzt kein therapeutisches Potential.

 

 

Bilder sind komplexe, per Gestalt formulierte Mitteilungen über ästhetisches Erleben. Versuche also, bestimmte intensive Momente zu kommunizieren, in denen sich, oft nur für Sekunden, das Gefühl der Übereinstimmung zwischen Ich und Welt blitzartig entfaltet und alle anderen Bewußtseinsinhalte überlagert, die der pragmatische Lebensvollzug in unseren Gehirnlappen hinterläßt. Im Bild wird die Augenblickssituation zum ewigen Moment. Die Stille gehört zu diesem Moment. Sie ist – ein Effekt der Stilisierung – prinzipiell da, also selbst dann, wenn das Sujet aus 12 blasenden Alphornmusikanten besteht. Und sie herrscht auch in Gemälden Roberto Baldessaris, Tullio Cralis oder Giacomi Ballas, die in der Ausstellung den Futurismus vertreten und als Beispiele für die „Verherrlichung der Geschwindigkeit“ gezeigt werden.

Ignoriert man den sich aufdrängenden Gedanken, die Ausstellungskonzeption könnte erst gegen Ende der Planungsphase plötzlich mit dem Entschleunigungsvirus infiziert worden sein, tritt mit dem Untertitel auch die ursprüngliche Absicht, eine Schau über „Bewegung und Ruhe in der Kunst von Caspar David Friedrich bis Ai Weiwei“, zu inszenieren, deutlich zu Tage: Offeriert wird ein Bildungs-Gang durch die Kunst des 20. Jahrhunderts ff., ausgerichtet, wie gesagt, auf Ruhe und Bewegung. Anzulaufen sind 15 Stationen, bestückt mit 160 Arbeiten von 86 Künstlern, die in chronologischer Folge thematisch relevante Kunstrichtungen präsentieren: kontrapunktisch, wie es im Katalog heißt. Das geht in den meisten Fällen gut, gelegentlich aber auch, wie bei der Gruppierung „Jean Tinguely/ Bridget Riley“, daneben: Beide nämlich visualisieren Bewegung, „Char MK“ als konkreten Vorgang,

Tingueli  Char MK

Jean Tingueli, "Char MK", 1967

"Char MK" in Bewegung (ca. 1 Minute)
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Rileys „Movement in Squares“ als optische Täuschung. Der bessere Dialogpartner für Tinguelys kinetisches Objekt wäre eine Schrottplastik von Eduardo Paolozzi gewesen!

Bridget Riley, "Movement in Squares",
1961
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Mäkelei: Von der Neuen Sachlichkeit – man denke an Franz Radziwills Flugmaschinen und Alexander Kanoldts Stillleben – ist nichts zu sehen. Es fehlen die realistischen Bilder der 70er Jahre, Dieter Asmus´ eingefrorener Moment einer „Mövenfütterung“ etwa oder Bernd Schwerings „Vorbeifahrlandschaften“.

Dieter Asmus, "Möwenfütterung", 1973/74

Es fehlen die Comics, in denen „Bewegung und Ruhe“ schon seit Jahren auf bildsprachlichem Höchstniveau verhandelt wird: tiefgründig und witzig wie in Richard Corbens Horror-Komödie „The Flipped Mickey Click Flip“, wo der Erzähler Mr. Diment versucht, die Zeit anzuhalten, indem er dem Leser das Umblättern madig macht.

Richard Corben Creepy in aktion

Richard Corben, "The Slipped Mickey Click Flip", 1973 (Creepy 54)

Darüber hinaus stellt sich eine grundsätzliche Frage: Sind nicht die immer häufiger kreierten Events, in denen importierte Befunde aus Sozio-, Psycho-, Ethnologie  – oder, wie hier, aus der Dromologie – thematisiert werden, selbst  mitverantwortlich für die extreme  Beschleunigung nahezu sämtlicher Lebensprozesse? Mithin auch für die psychosomatischen Folgen oder das, was Virilio den zu erwartenden „rasenden Stillstand“ nennt? Je öfter solche leibarmen Ausstellungen in den Fokus rücken, umso stärker geraten autonome Kunstwerke, Arbeiten, die nicht begriffliche Entitäten illustrieren, sondern über den Kurzschluß von endogenem Bild und konkreter Wahrnehmung evoziert werden, ins Abseits: polyvalente Bilder, die Dimensionen der Wirklichkeit zum Ausdruck bringen, die auf diskursivem Wege nicht zu erschließen sind: Das Museum verliert seinen Status als Ort geistesgegenwärtiger Kontemplation, aus der sich Anhaltspunkte für neue lebenskräftige Verknüpfungen mit den Dingen der Welt ergeben können.

Gegen Ende der Ausstellung, vor Beuys´ „Fond IV/4“, einem Objekt aus Filz-, Eisen- und Kupferplatten, das man als Materialmetapher zum Komplex „Leitung und Speicherung von Energie“ sehen kann, mußte sich die zuständige Wärterin dreimal hintereinander die freie Meinungsäußerung eines jungen Mannes in Jogging-Outfit anhören: „Diese Kupferplatten würde ich auf schnellstem Wege bei eBay verkaufen!“ Auf schnellstem Wege? Offenbar hatte er den Parcours über „Die Kunst der Entschleunigung“ im Sturmschritt absolviert.

Erschienen in Konkret 2/2012

     
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