ARMIN SCHREIBER
KUNST-PATERNOSTER
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         Ikonen ohne Gesicht  
 

„Wir müssen die Gegenwart vergessen. Wir müssen alles aufs neue Gestalten.“ – „Wir suchen anderen Werte, eine andere Inspiration, eine andere Kunst…“

„Wir schlagen vor, die Malerei von ihrer Unterwerfung unter die vorgefertigten Formen der Wirklichkeit zu befreien und sie in erster Linie zu einer schöpferischen, nicht reproduktiven Kunst zu machen.“ – „Wir  bahnen einer nie dagewesenen Erneuerung der russischen Malerei den Weg…“

Plural ist angesagt, Künstlergruppen sind en vogue. Sie nennen sich „Bund der Jugend“, „Dasein“, „Ost“ und „Hitze-Farbe“.

Natalija Gontscharowa

"Eselsschwanz": Natalia Gontscharowa (1910)

„Zielscheibe“, „Kranz“ und „Eselsschwanz“ betiteln sie ihre Furore machenden Ausstellungen. Mit bemalten Gesichtern laufen Natalija Gontscharowa und die „Karo-Buben“ durch die Straßen Moskaus, um dem echauffierten Publikum die Verschmelzung von Kunst und Leben anzudeuten. Voller Vertrauen noch in die Wirksamkeit derartiger Großgesten treten Malewitsch und seine Zunftgenossen auf: in gelber Weste, Kochlöffel im Knopfloch und Sofakissen am Halsband. Die Banalität des kleinbürgerlichen Alltags wollen sie karikieren, dem öffentlichen Geschmack – so ein Augenzeuge – eine „Ohrfeige“ verabreichen.

Bei dieser einen bleibt es nicht. 1913, anläßlich der Aufführung der ersten futuristischen Oper „Sieg über die Sonne“ von Matjuschin in St. Petersburg – besungen und besprochen wird das „Ende der tradierten künstlerischen Ästhetik“ – artikuliert man die Provokation direkter. Das Publikum reagiert prompt. Nicht wegen Malewitschs Bühnenbild aus großflächigen geometrischen Formen und Maschinenteilen, nicht wegen der von ihm aus Draht und Karton kubistisch konstruierten „laufenden Maschinen“. Erst als einer der Schauspieler, wie ein Roboter sprechend, den Illusionismus der naturalistischen Malerei einen angenagten Eselsschädel mit vier Beinen nennt und dabei auf die Besucher weist, entsteht wüster Tumult. Der Kommentar des Librettisten ist überliefert: „Welch ein Erfolg. Welch großartiger Erfolg!“

Sieg über die Sonne

"Der dicke Mann", Skizze eines Entwurfs für die Oper "Sieg über die Sonne", o.J.

Von diesem Triumph abgesehen – immerhin ist er ein Meilenstein für die Etablierung des Krawalls als Indikator für progressive Kunst – kündigt die Inszenierung via Bühnenausstattung das Auftauchen eines der legendären Bilder der klassischen Modern an: das „Schwarze Quadrat“, ein Gemälde, das Malewitsch zwei Jahre später, auf der „Letzten futuristischen Ausstellung 0,10“ erstmals präsentiert und demonstrativ oben rechts in die Ecke des Ausstellungsraumes postiert, dorthin, wo in russischen Häusern gewöhnlich die Ikone hängt!

Das Schwarze Quadrat oben rechts

"Das Schwarze Quadrat", Ikone der Moderne

Eine weitere Ohrfeige oder tatsächlich Reverenz gegenüber der Hebamme des Suprematismus? Das Umfeld auf jeden Fall –Sympathisanten wie Gegner – begreift sofort. Während Gorki in solchen Bekundungen einen „abscheulichen Verrat an der Sache des Fortschritts“ sieht, die er als „mystischen Anarchismus“ abfackelt, sind sie für Malewitsch und seine Mitstreiter präziser Ausdruck ihres künstlerischen Fundaments: Definitiv Neues kann nur im Rückgriff auf Traditionelles, genauer, auf traditionell Russisches entstehen!

Neu indessen ist die Idee – und das erklärt Gorkis Blitzreaktion – zu diesem Zeitpunkt nicht. Im Grunde markiert Malewitschs Manifestation bereits den Höhepunkt einer Entwicklung bzw. Kontroverse, die zeitgleich etwa mit der berüchtigten „bataille réaliste“ zwischen Rea- und Idealisten im 19. Jahrhundert einsetzt und in Rußland zur Wiederbelebung traditioneller Vorstellungen führt. Evoziert wird der Prozeß durch die Aktivitäten der „Wanderer“, einer Malergruppe, die in der Manier französischer Realisten arbeitet und die Ausstellungen in der Provinz organisiert, um damit Aufklärung, Fortschritt und westlich-moderne Weltsicht aufs Land zu tragen. Einer noch immer den alten Konventionen verhafteten Bevölkerung allerdings, der die westlich orientierte Salon-Kultur der herrschenden Klassen allenfalls vom Hören-Sagen bekannt ist, der die Ikone als Bild schlechthin gilt – und die bietet eben keine Ab-, sondern Gegenbilder zur Realität, will nicht erziehen wie die Arbeiten der „Wanderer“, sondern ist Objekt der Verehrung –: dieser Bevölkerung können Lehrstücke von mähenden Bauern und schuftenden Wolgaschiffern nichts bedeuten.

Die Mäher

Grigori Mjassojedow, "Die Mäher", 1887

Einspruch gegen die „Wanderer“ erhebt vor allem Dostojewski. Er nimmt dabei insbesondere einen gewissen Tschernyschewski aufs Korn, der die Kreationen russischer Kunst, ihrer Kultur generell, als dumm und illegitim bezeichnet und dessen Apologie einer offensichtlich mißverstadenen West-Kultur in der These gipfelt, Kunst sei allein noch zu Erziehungszwecken brauchbar und ansonsten gänzlich überflüssig (eine gewisse Nähe zur gegenwärtig grassierenden documenta-“Ideologie“ ist nicht zu bezweifeln!). Für Dostojewski offenbart sich in derartigen Thesen eine „unverzeihliche Dummheit“ und er kontert: „Der Mensch dürstet nach Schönheit!“

Wenn  auch solche „fortschrittsfeindlichen Äußerungen“ zunächst aus der öffentlichen, von den Akademien dominierten Diskussion noch verbannt sind, entfalten sie doch eine unterschwellige Wirkung. 1899 erscheint Dostojewskis Ausruf in modifizierter Form – „Wir sind eine Generation, die nach Schönheit dürstet“ – in der neugegründeten „Welt der Kunst“ und in dem Zusammenhang auch ein Hinweis auf die russische Ikone. Zudem nimmt der Herausgeber Djagilew bezug auf die von Solowjow verfaßte Kritik des durch Materialismus, Vernunft- und Fortschrittsgläubigkeit geprägten westlichen Denkens, dem ein komplexerer Geistbegriff (aus heutiger Sicht: mit deutlichem Touch ins Esoterische) entgegengestellt wird, auf den sich später Kandinsky („Über das Geistige in der Kunst“) und auch Malewitsch berufen.

Natalia Gontscharowa Der Radfahrer

Natalia Gontscharowa, "Der Radfahrer", 1913

Für die jungen, Anfang der 1880er Jahre geborenen Künstler, die kurz darauf die Moskauer Szene betreten, wandelt sich die Ikone vom sakralen Objekt zum primär ästhetischen Gegenstand. Sie registrieren einen gravierenden Unterschied zum Realismus westlichen Provenienz. Nataljia Gontscharowa, wortgewandt, bringt es auf den Punkt: „Die Kunstwerke des ostens kopieren die Natur nicht, sie verbessern sie nicht, sie schaffen sie neu.“ (Gut, daß Courbet sowas nicht mehr hören mußte.) Auch der Kunsthistoriker Nikolai Punin prophezeit, die Ikone werde die zeitgenössische Kunst zu gänzlich neuen Errungenschaften führen.

Was der Historien- und Mythenmaler Machail Wrubel durch intensive Beschäftigung mit alter Ikonen-Kunst entdeckt und bereits 1885 ummünzt in eine die Zentralperspektive negierende, quasi kubistische Sicht der Dinge, wird nun auch von Larionow, Filonow, Malewitsch, Tatlin etc. gesehen und erkannt: als eine von den grundlegenden Veränderungen der Renaissance unberührte, im Byzantinismus steckengebliebene Bildsprache, die unangetastet auch in der Volkskunst, in Bilderbögen, Laden- und Reklameschildern überlebt hat.


Den Künstlern bietet sie – vergleichbar der „Negerplastik“ und ihrer Bedeutung für Picasso – ein hochattraktives Konvolut gänzlich unverbrauchter, vom akademischen Betrieb noch nicht abgenutzter Ausdrucksmittel, deren Wirkungsrichtung den Intentionen dieser neuen Künstlergeneration entspricht: weg auf jeden Fall vom Realismus des 19. Jahrhunderts, hin zu einer Kunst ohne ablenkendes Sujet.

Larionow

Michail Larionow, "Rot und Blau",1911

Natürlich kennen sie die neuen Stars der westlichen Moderne, vor allem Cézanne, Matisse und seit 1909, über Moskauer Privatsammlungen, auch Fauvisten und Kubisten. Bei ihren frühen Bildern mischen denn auch die Impressionisten kräftig mit. Cézanne ist das Idol der „Karo-Buben“, Maschkow wird der Moskauer Matisse genannt. Ebenso deutlich zeigt sich der Einfluß des Symbolismus. Erst durch den Rückgriff aber – stark geprägt von nationalem Pathos – auf überlieferte Darstellungsmöglichkeiten des eigenen Landes erhält die Auseinandersetzung mit der westlichen Moderne den spezifischen Drive: Erst jetzt entstehen die Arbeiten, die später unter dem Begriff „Russische Avantgarde“ subsumiert werden.

Lentulow

Aristarch Lentulov:"Basilius Kathedrale",1913

Dabei ergibt sich ein überraschender Befund. „Der Radfahrer“ Gontscharowas, ein Beispiel futuristischer Malerei; Lentulows gläserne Klostertürme als volkstümlicher Kubismus bezeichnet; „Der Spiegel“, ein Werk, mit dem Chagall den Surrealismus antizipiert, oder Larionow, der sich bereits 1910 via „Stahlen“-Malerei (Rayonismus) der Abstraktion nähert, aber bereits zwei Jahre später eine „Venus“ im „Infantilen Stil“

Larionow Venus

 Michail Larionow, "Venus", 1913

auf die Leinwand bringt: Keineswegs, das zeigen eindrucksvoll die rund 100 Exponate der Ausstellung, schreitet die Kunst in gerader Linie fort und auf den Suprematismus zu. Die russische Avantgarde ist heterogener gewesen als bisher angenommen.

Pawel filonow Bauernfamilie

Pawel Filonow, "Bauernfamilie", 1914

Ein Künstler wird bei anstehenden Korrekturen mit Sicherheit deutlicher ins Blickfeld geraten: Pawel Filonow, der 1930 – ein tragisches Kuriosum – die 300 bereits hängenden Bilder einer Ausstellung im Russischen Museum Leningrad wegen ideologischer Differenzen, aber gegen das ausdrückliche Votum der befragten Arbeiter, wieder abnehmen muß, der für ein halbes Jahrhundert in der Versenkung verschwindet und dessen Werk erst seit 1988, nach Ausstellungen in St. Petersburg, Paris und Düsseldorf (1990) wieder zugänglich und auch in der Hamburger Ausstellung präsent ist.

Filonow Formel des Imperialismus

Pawel Filonov, "Formel des Imperiaslismus", 1925

1883 geboren und in einfachsten Verhältnisse aufgewachsen – seine Mutter ist Wäscherin, sein Vater Kutscher – wird er zur solitären Erscheinung innerhalb der russischen Avantgarde: ein Künstler, der schon in jungen Jahren begeisterte Zustimmung und extremen Widerspruch auslöst. Während er beim Aktzeichnen rausfliegt, weil er „seine Kommilitonen mit seinen Gemälden verdirbt“, hört er von einem anderen Professor die bemerkenswerte Prognose: „Sehen Sie, sehen Sie, was er macht! Nur so wird man zu einem Cézanne, van Gogh oder Leonardo!“

Was er macht – Filonow nennt es später „Analytische Malerei“ – was er in großformatigen, „mit kleinem Pinsel“ gemalten Bildern über glühendfarbige, kleinteilig-kristalline und vegetative Formenkomplexe zur Darstellung bringt, wirkt zunächst wie Mikro-Kubismus, durchsetzt mit futuristischen Elementen. Bei längerer Betrachtung allerdings – und die sensuellen Attraktionen laden dazu ein – wird erkennbar, daß es nicht um Konstruktion, sondern um Wachstum geht, um eine Außen- und Innensicht von Entwicklungsprozessen. „Formel des Imperialismus“, „Formel des Petrograder Proletariats“ nennt er seine Arbeiten. Was das Auge dabei wahrnehmen kann, erscheint „gegenständlich“, was sich der sichtbaren Wahrnehmung entzieht und an Wissen und Intuition in die Arbeit einfließt, kommt „abstrakt“ zum Ausdruck: „Große Abstraktion“ und „Große Realistik“, die nach Kandinsky „ihre Existenzen getrennt zu führen beabsichtigen“, führt Filonow – das macht seine Bilder nicht nur für Fachpublikum hochinteressant – zusammen!

 Pawel Filonow Tiere

Pawel Filonow, "Tiere", 1930

Und die getrennte Existenz der Abstrakten? Die sich anfangs aufbauende Hochstimmung angesichts der zahlreichen, zum Teil völlig unbekannten Werke – ein Drittel der in Hamburg ausgestellten Leihgaben kommt von regionalen Museen, u.a. aus Nishni Nowgorod, Omsk und Krasnoyarsk – weicht dann doch einer gewissen Ernüchterung. Kandinsky ausgenommen, dessen farbkräftig-waghalsige, mit vegetativen Elementen spielenden Kompositionen nach wie vor elektrisieren, sieht man insbesondere die Arbeiten der Suprematisten und Konstruktivisten nur noch als kunsthistorisches Phänomen. Sie visualisieren ein Programm, ein gedankliches Experiment, das auch für sie selbst offenbar keine weiterreichende Perspektive bietet. Mit dem sie steckenbleiben in ihrer Zeit wie die Ikone im Byzantinismus. Sollten Malewitsch &Co. bei ihrem Unterfangen, die spirituelle Essenz der Ikone zu säkularisieren und ins 20. Jahrhundert zu transportieren, ein fundamentales Faktum entgangen sein? Die Ikone hat ein Gesicht. Das Quadrat nicht!

Konkret 12/1998

     
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