Im Jahr 1715
kreuzt der 27jährige Jesuitenpater Giuseppe Castiglione , von
seinen Ordensbrüdern nach China entsandt, im kaiserlichen Palast
zu Peking auf. Wie seine Vorgänger, die als Mathematiker,
Astronomen und Kanonengießer die Gunst der Herrscher errungen
hatten, bietet auch er zunächst „weltliche“ Dienste als Maler
an, um später dann – so der Plan – missionarisch tätig zu
werden. Von Castigliones Bekehrungskünsten ist nichts
überliefert; selig- oder heiliggesprochen zumindest wurde er
nicht. Aber als Hofmaler der „Söhne des Himmels“
sorgte er für eine Revolution: Neben der
Zentralperspektive und Helldunkelmalerei, die den
Landschaftsdarstellungen eine in China bis dahin nie gesehene
Raumtiefe eröffnete, zudem Figuren, Fauna und Flora mit einer
als aufreizend empfundenen Plastizität und Lebendigkeit
ausstatteten, war es vor allem Castigliones detailgenaue Sicht
der Dinge, die der chinesischen Gelehrtenmalerei eine Reihe
folgenreicher Impulse vermittelte. Nicht von
ungefähr beteiligte sich Kaiserliche Hoheit, als der Meister
1766 starb, mit 300 Silbertalern an den Beerdigungskosten und
ernannte ihn posthum zum Vizeminister.
Anders als
bei dieser ersten nennenswerten Begegnung mit abendländischer
Malerei, die zwar zu einer beträchtlichen Erweiterung der
Ausdrucksmöglichkeiten führte, auf Charakter und Fluidum der
chinesischen Kunst jedoch ohne Einfluß blieb – und das gilt, den
Sozialistischen Realismus ausgenommen, für alle weiteren
Kontakte –, scheint sich gegenwärtig, durch eilige Anpassung an
den westlichen Diskurs, tatsächlich ein Umbruch zu vollziehen.
Daß die
chinesischen Künstler nach Maos Tod (1976) und dem Ende der
Kulturrevolution nicht allesamt zu Papier, Tusche, Pinsel und
Tuschstein, den „vier Kostbarkeiten der Studierstube“, und damit
zur traditionellen Blumen-, Vogel- und Landschaftsmalerei
zurückgekehrt waren, sondern sich zunehmend auch –inspiriert von
Europa und den USA –mit neuen Inhalten und Darstellungsformen
beschäftigten, wird im Westen erstmals nach der Niederschlagung
des Aufstands am Platz des Himmlischen Friedens (Juni 1989)
registriert: An diesem Aufstand, dem Proteste der „Bewegung 85“
unter anderem gegen die Schließung der Pekinger Schau
„China/Avantgarde“ vorausgegangen waren, hatten sich zahlreiche
junge Künstler beteiligt, von denen einige nach der Liquidierung
des Widerstands ins Ausland gingen. Präsentationen ihrer
Arbeiten in Frankreich, USA und Japan sorgten für beträchtliche
Resonanz, wobei in der Folge auch die prekäre Lage der
chinesischen Avantgarde innerhalb der Volksrepublik in den Fokus
geriet: Die Zeitschrift „Fine Art in China“ mußte ihr Erscheinen
einstellen, „Art Monthly“ erhielt eine konservativ ausgerichtete
Redaktion; neue Arbeiten konnten nur in privatem Rahmen, in
Abrißhäusern, alten Fabrikanlagen (des mittlerweile legendären
Bezirks 798) und in ausländischen Botschaften gezeigt werden.
Ai Weiwei, "Han Dynasty Urn with
Coca Cola-Logo", 1995
Mit dem
Ausbau der Reform- und Öffnungspolitik in den 90er Jahren – eine
wichtige Rolle spielt dabei u.a. das neue
„Joint-venture-Kapital-Gesetz“, das ausländischen Investoren
mehr Schutz bietet – beginnt eine explosionsartige
Wirtschaftsentwicklung, an der inzwischen auch die Künstler der
Avantgarde partizipieren. Zwar bevorzugen einheimische Käufer
traditionelle Kunst (europäische Auktionäre sprechen von einer
Rückkaufwelle), aber das ausländische Publikum setzt forciert
auf zeitgenössische
Arbeiten, wobei sich das Segment
Political Pop, eine
Mixtur aus Sozialistischem Realismus und Andy Warhol, besonderen
Zuspruchs erfreut.
Und das
nicht nur seitens der Kunden. Die Einladungsliste zur
erstmaligen Teilnahme chinesischer Künstler an der
Venedig-Biennale 1993 signalisierte, daß jene Kombination von
rosigen Mao-Köpfen und – was wäre die Avantgarde ohne die
Cola-Dose – heroisch präsentierten Konsumartikeln gerade wegen
der immer wieder aufscheinenden Nähe zu den Veteranen
„heimischer“ Pop-art in der Regel auch bei Kuratoren gut
ankommt.
Sind solche
Déjà-vu-Erlebnisse, die sich vergleichsweise oft und nicht nur
bei Begegnungen mit
Political Pop einstellen, denen die chinesische
Gegenwartskunst ihren durchschlagenden internationalen Erfolg
verdankt? Ist es der „Aufbruch pur“, der die westliche Nachfrage
stimuliert oder der Wunsch nach preisgünstiger Teilhabe an den
„Flitterwochen mit dem Kapitalismus“, wie der Kritiker Zhang
Langsheng den gegenwärtigen Aufstieg der chinesischen Künstler
bezeichnet? Darüber kann man spekulieren. Tatsache ist: Nach
umfassenden Ausstellungen während der 2. Hälfte der 90er Jahre
in Barcelona, Bonn,
Kopenhagen, New York, San Francisco, nach der auffälligen
Präsentation aktueller chinesischer Kunst durch Harald Szeeman
bei den Venedig-Biennalen 1999 und 2001, sind deren
Protagonisten in der globalen Kunstszene allgegenwärtig, was die
Ausstellungsliste für 2006 (Topadressen in Amsterdam, Bern,
Berlin, Frankfurt. Montpellier und London) bestätigt.
In diese
Reihe gehört auch das Mammutspektakel der Hamburger Kunsthalle,
die unter dem Titel „Mahjong“ chinesische Gegenwartskunst aus
der Sammlung des Schweizers Uli Sigg vorstellt, der 1979/80 – es
ging um Fahrstühle – das erste westlich-chinesische Jointventure
einfädelte und später auch Botschafter in Peking war. Seine
repräsentative Kollektion umfaßt 1400 Exponate, von denen in
Hamburg etwa 300 zu besichtigen sind.
In Öl auf
Leinwand, flankiert von einem Ensemble agierender Arbeiter und
Bauern, eröffnet „Chairman Mao“ die Ausstellung. Verabschiedet
wird man von „The Curators“, einem schwarzweißen Acrylbild des
in Peking und Honkong lebenden Künstlers Yan Lei, das im letzten
Saal des Parcours zu sehen ist. Es zeigt eine Gruppe
gewichtiger, aus Europa und den USA stammender Repräsentanten
des globalen Kunstbetriebs – Enwezor, Leiter der 11. documenta
ist zu erkennen – auf
Exkursion im Land der Mitte. „Chairman Mao“ (1973)
also, dargestellt im Stil
des Sozialistischen Realismus, und „The Curators“ (2000),
präsentiert in der Art leicht verwischter
Bildschirmerscheinungen à la Gerhard Richter, markieren Ausgans-
und vorläufigen Endpunkt der Entwicklung chinesischer
Gegenwartskunst und bestätigen –ironisch pointiert –den Transfer
der Deutungshoheit von Mao Zedong auf Enwezor & Co.
Die Folgen sind
offensichtlich. Wie in Yans „The Curators“, wo die in westlichen
Kunstkreationen kultivierte Unschärfe sofort ins Auge fällt, so
muß man bei Xu Bing, der in „Himalaya Drawing“ Regen im Gebirge
mittels kalligraphischer Zeichen visualisiert, primär an die
europäische Variante skripturaler Malerei, bei Zhu Fadong an
Polkes
|
|
Transparentbilder oder bei Wang Guangyi
(“Chanel No. 5“) an Roy Lichtenstein denken: Das Gros der
Arbeiten läßt sich –so deklarieren auch zahlreiche Künstler ihre
Werke – als „zeitgenössische westliche Kunst chinesischer
Prägung“ bezeichnen.
Was dem
spezifisch Westlichen dabei wiederfahren kann, deutet sich in
einer Bemerkung des Malers Yin Zhaoyangn an: „In meiner
Heimatstadt Henan mischen die Leute Coca Cola mit Essig und
trinken das warm.“ In ähnlicher Weise nämlich geht man mit
importierten Formvorstellungen um, die sich durch Einschmelzen
persönlicher und kollektiver Erfahrungen, auch über assoziative
Bezüge zu tradierten Vorstellungen, mit anderen Konnotationen
aufladen. Politpop-Künstler Yu Youhan zeigt auf einem Ölgemälde
„Ohne Titel“ (1996) Mao: gemütlich im Polstersessel und gütig
lächelnd. Bis auf Hände, Füße, Kopf und Spucknapf ist das
gesamte Format (160 x 118 cm) mit bunten, in Richtung Volkskunst
stilisierten Blüten überzogen: Anspielung auf Maos Slogan „Laßt
hundert Blumen blühen, laßt hundert Schulen miteinander
wetteifern“ (1956/57), der von den Intellektuellen als
Ermutigung zur Systemkritik verstanden wurde (und wohl zunächst
auch so gemeint war), schließlich aber zur „Kampagne gegen
Rechtsabweichler“ führte.
Yu Youhan, "Ohne Titel" (Der
Vorsitzende Mao), 1996 |
Link zum Bild |
Oder Geng
Jianyis „The Second Situation“ (1987): Die vier an
fotorealistische Grisaillen erinnernden stereotyp lachenden
Glatzköpfe fungieren hier nicht als Vehikel einer
Medienreflexion, sondern sind Visualisierung eines „Racheakts“,
entstanden als Affront gegenüber der Prüfungskommission, die
seine Abschlußarbeiten wegen des fehlenden „positiven“ Inhalts
zurückgewiesen hatte. Die maskenhaften Gesichter – heute Ikonen
der chinesischen Gegenwartskunst – reagieren auf aktuelle
gesellschaftliche Verhältnisse, beziehen sich dabei aber auch
auf vielfach überlieferte zynisch-humoristische Gesten
chinesischer Gelehrter, die sich in Zeiten politischer
Repression als „Verrückte“ oder „Zügellose“ aufführten.
Neben
Arbeiten wie der des international renommierten Ai Weiwei,
dessen „Han Dynasty Urn with Coca-Cola Logo“ (1995) lediglich
soziokulturelles Allerweltswissen mit Ethno-Touch visualisiert
und damit auf der Diskursebene bleibt, gibt es ein knappes
Dutzend Bilder, die zwar thematisch innerhalb des
Erwartungshorizonts jener „Curators“ liegen, aber das
Kuratoren-Credo, es sei „wichtiger, sich auf etwas zu beziehen,
als etwas auszudrücken“ (Saskia Bos), ganz offensichtlich
negieren: Liu Ye zum Beispiel, dessen Gemälde, wie er sagt,
zwischen Philosophie und Märchen oszillieren, gewährt Einblicke
in ein Paralleluniversum, das seine Existenz kindlich-pubertären
Imaginationen und
formaler Präzision verdankt. In dieses Universum gehören u.a.
„Ruan Lingyu“ (2002), Chinas Königin der Stummfilmzeit, die als
enigmatisches Mondgesicht vor tiefblauem Fond erscheint, oder
eine Lehrerin („My Teacher II“,2001), deren Outfit – nicht nur
der Träger ihres BHs ist verrutscht – sie als die sexuelle
Halluzination eines Schülers kenntlich macht.
Autoaggression und zwischenmenschliche Brutalität sind
das Thema Yang
Shaobins. Im Zuge der Umsetzung des fotografischen Materials
–Ringkämpfe zwischen ihm und seinem Bruder –wird die konkrete
Situation, so scheint es, wieder der inneren Vorstellung
angenähert: aufgequollene, wie verbrüht wirkende gallertartige
Fleischklumpen, ineinander verklammert mit demolierten
Gesichtern in einem Exzeß der Gewalttätigkeit („Ohne Titel,
No.7, 2001).* Bemerkenswert an dieser Arbeit ist, daß sie den
Gewaltausbruch fixiert, bevor das Geschehen einer moralischen
Interpretation unterzogen ist. Man wird nicht mit einem bereits
gewerteten, eingeordneten und damit auf Distanz gebrachten
Sachverhalt konfrontiert, sondern mit dessen aufwühlendem
Rohzustand.
Über 100
Künstler und ungefähr 300 Arbeiten: Von einer „mit Poesie
durchtränkten Romantik“ –so beschreibt Yin Zhaoyang den
Grundcharakter der chinesischen Kultur – sind allenfalls noch
Spuren zu registrieren. Durchweg dominiert, was gemeinhin
globaler Mainstream genannt wird. Das zeigt sich anhand der
zitierten Vorbilder (Richter, Rauschenberg, Johns, Koons, Warhol
und so weiter), das zeigt die verständliche Fixierung auf
gesellschaftspolitische Probleme, die das heutige China in kaum
faßbarem Ausmaß generiert, die aber von der überwiegenden
Mehrheit der Künstler, bei aller Betonung der individuellen
Erfahrung, vorzugsweise durch importierte Brillen gesehen und –
westlicher Didaktik folgend – in handelsüblicher Weise
„hinterfragt“ und „entlarvt“ werden. Widerstand
gegenüber westlichen Kunstvorstellungen? Inspirationen,
die den landläufigen Rahmen sprengen? Fehlanzeige.
Als Shanghai im 19.
Jahrhundert unter dem Einfluß Englands innerhalb weniger
Jahrzehnte vom Fischerdorf zum bedeutenden Handelsplatz
mutierte, entwickelte sich in der Stadt relativ schnell eine
„neureiche“ Bürgerschicht, die von den Malern der sogenannten
Shanghai-Schule mit Bildern versorgt wurde.
Xu Gu (1824-96), "Pinie und
Kranich", o.J.
In der
Kunstgeschichte laufen sie unter der Bezeichnung
„Handelsbilder“: Womöglich eine Parallele?
*) Das Bild wurde nachträglich eingefügt,
da das vorgesehene Werk im Netz nicht mehr zu finden ist.
Erschienen
in
Konkret
11/2006
|