Lucas Cranach d.Ä.
"Das Turnier", Holzschnitt,
1509
Baldung Grien
"Hexen", 1510
Rembrandt
"Die drei Hütten",
1650
Kupferstich nach Rubens von Lukas Vorstermann
"Die Amazonenschlacht",
1623
Francisco Goya
"Spanische Unterhaltung",
1825
Adolph Menzel
"Die Salzburger Protestanten in Königsberg",
1836
Pablo Picasso
"Der Stier",
1. Zustand 5.12.1945
Pablo Picasso
"Der Stier",
4. Zustand 22.12.1945
Pablo Picasso
"Der Stier",
8. Zustand 2.1.1946
Pablo Picasso
"Der Stier",
11. Zustand 17.1.1946
Pablo Picasso
"Zwei Frauenakte",
6. Zustand 26.11.1945
Pablo Picasso
"Zwei Frauenakte",
11. Zustand 21.1.1946
Pablo Picasso
"Zwei Frauenakte",
18. Zustand 12.2.1946 |
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Multiple Bildwerke sind
durchaus nichts Neues. Ihre Geschichte beginnt vor etwa
550 Jahren und erlebt kurz darauf schon den ersten
Höhepunkt. Denn die Alten Meister stürzen sich mit
Vehemenz auf die neuen Medien, auf Holzschnitt und
Kupferstich. Martin Schongauer, Albbrecht Altdorfer,
Hans Baldung Grien gehören dazu, beide Cranachs, beide
Holbeins und vor allem Albrecht Dürer, der seine
Klientel nicht nur mit kunstvollen Darstellungen
religiöser Themen bedient, sondern auch, wie
Die wunderbare Sau von Landser offenbart, ihre
Sensationslust befriedigt. Sensationen anderer Art
liefern im 17. Jahrhundert die legendären
„Rubensstecher“. Bei ihnen läßt der Meister
barock-plastischer Großformen neben Historischen Köpfem
(Marcus Tullius Cicero)
Gemälde vervielfältigen:
Die Amazonenschlacht
und
vergleichbare Events zum privaten Kunstgenuß fürs 2.
Drittel des. 3. Standes.
Für die Weiterentwicklung der grafischen Künste indes
spielt ein anderer, nämlich Rembrandt, die herausragende
Rolle. Warum? Erstens wegen seiner großartigen
Radierungen. Zweitens, weil er sie als gleichwertige
Kunstwerke neben Ölbilder und Zeichnungen stellt. Damit
löst er die Initialzündung aus zur Nobilitierung dieser
Technik.
Bis zum Ende des 18.Jahrhundert bleibt die Radierung das
bevorzugte Medium, zumal sich durch die Erfindung der
Aquatinta-Technik die Ausdrucksmöglichkeiten deutlich
erweitern. Sie erlaubt, neben Schwarz und Weiß auch
flächige Halbtöne zu drucken. Unter den maßgeblichen
Künstlern steht Francisco de Goya an erster Stelle.
Angesichts seines 80 Blätter umfassenden Zyklus
Desastres de la guerra verflüchtigt sich die Frage
nach dem künstlerischen Eigenwert grafischer Arbeiten.
1825, kurz vor seinem 80. Geburtstag, legt Goya eine
bemerkenswerte Grafik mit nahezu malerischen Qualitäten
vor. Spanische Unterhaltung, eine
Stierkampfszene und als Steindruck erkennbar, wie er
seit seiner Entdeckung (1796) vor allem zur
Vervielfältigung von Noten, Formularen, Briefköpfen etc.
genutzt wird. Goya setzt ihn ein zur Realisierung
komplexer Bildvorstellungen und trägt so – neben
Delacroix, der sich große Verdienste erwirbt um die
„Befreiung der Lithographie aus den Klauen der
Reproduktionskunst“ – mit dazu bei, den Steindruck als
künstlerisches Medium zu etablieren: Das 19. Jahrhundert
– Daumier, Toulouse-Lautrec, Menzel kann man hervorheben
– gehört der Lithographie.
Das 20.Jahrhundert gehört Picasso. Um zu verstehen, was
nun eigentlich Picassos Leistung – auch im grafischen
Bereich – ausmacht, muß man sich in Erinnerung rufen,
daß gegenständliche Bilder – entgegen einem
volkstümlichen Vorurteil, dem auch die oberen Etagen der
Kunstkritik anhängen – ihre spezifische, ihre ver- oder
bezaubernde Wirkung nicht durch naturgetreue Wiedergabe
des betreffenden Motivs entfalten. Sondern weil die
gestalterischen Grundelemente, die sogenannten Mittel,
die der jeweilige Gegenstand „von Natur aus“ in
gebundener Form – diffus und in wechselseitiger
Neutralisierung – wirken läßt, auch in Bildern
eingesetzt werden, aber – und das ist ausschlaggebend –
organisiert und zielgenau plaziert. Das
löst den Kick aus im Museum, deshalb rennt man hin.
Allerdings nicht zu Genre- und Historienbildern. Da
nämlich, in der traditionellen Malerei des 19.
Jahrhunderts, ist von den Mitteln nichts mehr zu spüren.
Nach wie vor wirken sie bei Holbein & Co., wo sie – für
den Betrachter unsichtbar – in der Gestalt des jeweils
dargestellten Objekts aufgegangen sind. Die Malerfürsten
hingegen, die dem Kaiserreich mit großflächigen
Illustrationen großer Schlachten und anderweitig
bedeutsamer Momente zu Herzen gehen („Er spricht mit
Mutter“ – wird sie die Verlobte akzeptieren?): sie
scheinen vergessen zu haben, daß und zu welchem Zweck es
so etwas wie gestalterische Grundelemente gibt. Mit
weitreichender Konsequenz: Die Verfremdung der
dinglichen Erscheinungen etc., die „Erneuerung der Welt
via Kunst“, die jede neue Generation neu zu leisten hat,
findet nicht mehr statt.
Genau das ist Picassos kalte Stelle des Kopfkissens, die
nach seiner Vorstellung jeder Künstler finden muß. 1906
spätestens, da ist er fünfundzwanzig, sind ihre
Dimensionen erkannt, und er beginnt mit der Besetzung
des Terrains: Wie Chemiker Substanzen einer Verbindung
isolieren, so isoliert er die Bildmittel (Punkt,
Linie, Fläche, Farbe), befreit sie aus der
traditionellen Verschmelzung.
Und dann kommt der Geniestreich: Nach neun Monaten, nach
einem Entwicklungsprozeß, bei dem – inzwischen gezählt –
809 Studien (Zeichnungen, Aquarelle, Ölbilder)
entstehen, weiß er sicher: Eine Figur bleibt eine Figur
(Gertrude Stein „saß“ im Vorfeld Modell), sie kommt in
Form, lebt geradezu auf, wenn die Mittel anders, nämlich
frei zusammengesetzt werden. Fünffach bestätigen Les
Demoiselles d´Avignon (1907) diese revolutionäre
Erkenntnis. Sie bildet das vitale Zentrum einer neuen
Formensprache.
Ausgestattet mit neu sortierten Formulierungsbesteck und
grenzenloser Neugier auf alles, was kreucht, fleugt oder
auf irgendeiner Sitzgelegenheit Platz nimmt – in
Wirklichkeit oder (später auch) in Bildern alter Meister
–, bürstet er die tradierten Seherfahrungen gegen den
Strich. Was also passiert, wenn die Farbfläche (z.B.
eines Gesichts) von ihrer Kontur gelöst und daneben
gesetzt wird? Wie verändert sich deren Ausdruck, wenn
sie nicht durch glatt aufgetragene Farbe, sondern durch
parallel geführte Streifen konstituiert oder durch
Punkte aufgelöst wird? Er findet Antworten, Serien von
Antworten und jede ist ein bis dahin nicht gesehenes
Bild.
Weniger spontan als lange Zeit angenommen, sondern
durchaus systematisch geht er dabei vor. Zwar bedient er
sich primär der Malerei, aber er bezieht auch andere
Medien in sein Fragespiel ein, wobei Grafiken, und zwar
alle Verfahren, immer eine wichtige, im Spätwerk sogar
die Hauptrolle übernehmen. Zwischen 1930 und 1937 z.B.
erscheinen die 100 Blätter der „Suite Vollard“,
Radierungen, oft mit Aquatinta wie sein erster (1899)
und letzter Druck (1972). 347 grafische Arbeiten sind
für das Jahr 1968 verzeichnet. 1958/60 rücken
Linolschnitte (in der Mehrzahl farbig) vorübergehend ins
Zentrum. Sie sind kunsthistorisch insofern interessant,
als sich hier der erwähnte Rollenwechsel erstmals
andeutet: Die formale Disziplin, die das Medium
erzwingt, stabilisiert eine Qualität, die in den
Ölbildern teilweise schon nicht mehr erreicht wird. Die
Lithographien schließlich – um sie geht es im Museum
Münster – entstehen konzentriert in der Zeit vom
Spätherbst 1945 bis 1962.
Weit über 800 Blätter, das lithographische Gesamtwerk
Picassos, hat Gert Huizinga (1927 in Lengerich/Westfalen
geboren) in 50 Jahren zusammengetragen. Über die
zufällige Bekanntschaft mit Marie-Thérèse Walter,
Lebensgefährtin des Künstlers in den dreißiger Jahren
(Picasso 1927: „Mein Name ist Picasso, ich möchte Sie
malen“), vor allem aber durch die freundschaftliche
Beziehung zu Picassos Drucker Fernand Mourlot, kommt er
an seltene Blätter, an Arbeiten, von denen keine
Auflagen, sondern nur Künstlerdrucke in geringer Anzahl
existieren. Eine grandiose Sammlung, die seit kurzem in
Münster gezeigt wird: ca.200 Exponate im ersten Angang
und souverän präsentiert.
Aber nur Lithographien? Hätte Huizinga nicht, bei so
viel Sachverstand, anders sammeln können? Von jeder
Disziplin die Spitzenwerke beispielsweise, womit über
die Linolschnitte – ein Nebeneffekt – auch etwas mehr
Farbe ins Spiel gekommen wäre? Zehn Minuten in der
Ausstellung und der Skeptiker mutiert zum Bewunderer.
Auch deshalb natürlich, weil permanent unbekannte
Blätter auftauchen. Insbesondere aber sind es die
beispiellosen und so nur per Lithographie
möglichen Serien wie Mädchen mit vollem Haar, Der
Stier oder Die zwei Frauenakte, die
offensichtlich besondere Anziehungskraft entfalten
und Besucher – selten registriert vor Bildern in den
letzten Jahren – zu leidenschaftlichen Debatten
animieren.
Und da es bei diesen Reihen sechs-, elf-,
einundzwanzigmal um das gleiche, leicht überschaubare
Motiv geht, schiebt sich das „Spiel der Mittel“ in den
Vordergrund, evoziert einen anregenden Ausbildungsgang
über künstlerisches Sehen. So geht man entlang am
Mädchen mit vollem Haar. Schrittweise verschwinden
die Plastizität andeutenden Farbspuren der
Gesichtsfläche, wird das Papierweiß durch leichte
Straffung der Kontur des Kopfes optisch gestaucht, so
daß über ein neu formuliertes Volumen ein veränderter
Ausdruck entsteht. Unübersehbar in der Schlußversion die
zeichenhaft-archaische Ausstrahlung des Kopfes! Zugleich
aber wirkt er wie frisch geschminkt für eine
Präsentation im 21. Jahrhundert.
Zu sehen ist, wie Der Stier, der als
impressionistischer dösiger Jungbulle startet, mit Hilfe
plastischer Formen, Funktions- und Kraftlinien, als
wolle er ausdrücklich mit Dürers Rhinozeros
konkurrieren, bedrohliche Stärke entfaltet und
schließlich, im 11. Zustand, doch als Umrißlinie endet.
Zum Event werden Die zwei Frauenakte, die
zwischen November 1945 und Januar 1946 ihre dem
Augenschein angenäherte Plastizität verlieren und als
kubistische Figuren in einem kubistischen Boudoir
landen.
Das Publikum der 50er und 60er Jahre feierte diesen
Endzustand, der das Motiv nach einem Prozeß der
Distanzierung vom Abbild irreversibel auf das ominöse
„Wesentliche“ reduziert. Inzwischen, da seit langem auch
Serien bekannt sind, die sich solcher Rezeption
widersetzen, richtet sich das Interesse verstärkt auf
die einzelnen Blätter. Weniger als Elemente einer
zielfixierten Entwicklungsreihe, sondern nebeneinander,
sogar rückwärts lesbar. Das Jonglieren mit
gestalterischen Grundelementen setzt das Motiv in
Bewegung, bringt die unterschiedlichen, z.T.
divergierenden Möglichkeiten einer Person zur
Entfaltung. Signifikantes Beispiel und ein Höhepunkt der
Ausstellung: die 35 Zustände der Frau im Lehnstuhl.
Die sichtbare Präsenz der Mittel sorgt dafür, daß
die Tatsache des Hergestellten nie unter den Tisch
fällt.
Gibt Münster den Anstoß zu einer neuerlichen Debatte
über das formale Kernproblem Picassos und des 20.
Jahrhunderts, zu einer Diskussion über Wert und Wirkung
bildbezogener Mittel? Vielleicht verhilft ja das neue
Grafikmuseum (seit 2010: Kunstmuseum Pablo Picasso
Münster) der Kunst auf ihrem scheinbar
alternativlosen Weg „vom Produkt zum Prozeß“ (Karlheinz
Schmid) zu einer erhellenden Verschnaufpause.
Erschienen in Konkret 11/2000
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