ARMIN SCHREIBER
KUNST-PATERNOSTER
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Picasso in Münster
         
Schongauer Bauernfamilie
Dürer Sau   Altdorfer Liebespaar Ausschnitt
         
Martin Schongauer
 "Bauernfamilie auf dem Weg zum Markt",
1485
  Albrecht Dürer
"Die wunderbare Sau von Landser",
1496

 
 
Albrecht Altdorfer
"Liebespaar",Holzschnitt
(Ausschnitt) ,
1511
         

Cranach Turnier

Lucas Cranach d.Ä.
"Das Turnier", Holzschnitt,
1509


Baldung Grien Hexen

Baldung Grien
"Hexen", 1510


Rembrandt "Die drei Hütten", 1650

Rembrandt
"Die drei Hütten",
1650


Lukas Vorstermann Nach Rubens Amazonenschglacht

Kupferstich nach Rubens von Lukas Vorstermann
"Die Amazonenschlacht",
1623


Goya Spanische Unterhaltung

Francisco Goya
"Spanische Unterhaltung",
1825


Menzel Die Salzburger Protestanten

Adolph Menzel
"Die Salzburger Protestanten in Königsberg",
1836







Pablo Picasso Der Stier 1. Zustand

Pablo Picasso
"Der Stier",
1. Zustand 5.12.1945


Picasso Der Stier 4. Zustand 22.12.1945

Pablo Picasso
"Der Stier",
4. Zustand 22.12.1945


Pablo Picasso Der Stier. 8. Zustand

Pablo Picasso
"Der Stier",
8. Zustand 2.1.1946


Pablo Picasso Der Stier 11. Zustand

Pablo Picasso
"Der Stier",
11. Zustand 17.1.1946



Pablo Picasso Zwei Frauenakte 6. Zustand

Pablo Picasso
"Zwei Frauenakte",
6. Zustand 26.11.1945


Pablo Picasso Zei Frauenakte 11. Zustand

Pablo Picasso
"Zwei Frauenakte",
11. Zustand 21.1.1946


Pablo Picasso Zwei Frauenakte 18. Zustand

Pablo Picasso
"Zwei Frauenakte",
18. Zustand 12.2.1946
 

Multiple Bildwerke sind durchaus nichts Neues. Ihre Geschichte beginnt vor etwa 550 Jahren und erlebt kurz darauf schon den ersten Höhepunkt. Denn die Alten Meister stürzen sich mit Vehemenz auf die neuen Medien, auf Holzschnitt und Kupferstich. Martin Schongauer, Albbrecht Altdorfer, Hans Baldung Grien gehören dazu, beide Cranachs, beide Holbeins und vor allem Albrecht Dürer, der seine Klientel nicht nur mit kunstvollen Darstellungen religiöser Themen bedient, sondern auch, wie  Die wunderbare Sau von Landser offenbart, ihre Sensationslust befriedigt. Sensationen anderer Art liefern im 17. Jahrhundert die legendären „Rubensstecher“. Bei ihnen läßt der Meister barock-plastischer Großformen neben Historischen Köpfem (Marcus Tullius Cicero) Gemälde vervielfältigen: Die Amazonenschlacht und vergleichbare Events zum privaten Kunstgenuß fürs 2. Drittel des. 3. Standes.

Für die Weiterentwicklung der grafischen Künste indes spielt ein anderer, nämlich Rembrandt, die herausragende Rolle. Warum? Erstens wegen seiner großartigen Radierungen. Zweitens, weil er sie als gleichwertige Kunstwerke neben Ölbilder und Zeichnungen stellt. Damit löst er die Initialzündung aus zur Nobilitierung dieser Technik.

Bis zum Ende des 18.Jahrhundert bleibt die Radierung das bevorzugte Medium, zumal sich durch die Erfindung der Aquatinta-Technik die Ausdrucksmöglichkeiten deutlich erweitern. Sie erlaubt, neben Schwarz und Weiß auch flächige Halbtöne zu drucken. Unter den maßgeblichen Künstlern steht Francisco de Goya an erster Stelle. Angesichts seines 80 Blätter umfassenden Zyklus Desastres de la guerra verflüchtigt sich die Frage nach dem künstlerischen Eigenwert grafischer Arbeiten.

1825, kurz vor seinem 80. Geburtstag, legt Goya eine bemerkenswerte Grafik mit nahezu malerischen Qualitäten vor.  Spanische Unterhaltung, eine Stierkampfszene und als Steindruck erkennbar, wie er seit seiner Entdeckung (1796) vor allem zur Vervielfältigung von Noten, Formularen, Briefköpfen etc. genutzt wird. Goya setzt ihn ein zur Realisierung komplexer Bildvorstellungen und trägt so – neben Delacroix, der sich große Verdienste erwirbt um die „Befreiung der Lithographie aus den Klauen der Reproduktionskunst“ – mit dazu bei, den Steindruck als künstlerisches Medium zu etablieren: Das 19. Jahrhundert – Daumier, Toulouse-Lautrec, Menzel kann man hervorheben – gehört der Lithographie.

Das 20.Jahrhundert gehört Picasso. Um zu verstehen, was nun eigentlich Picassos Leistung – auch im grafischen Bereich – ausmacht, muß man sich in Erinnerung rufen, daß gegenständliche Bilder – entgegen einem volkstümlichen Vorurteil, dem auch die oberen Etagen der Kunstkritik anhängen – ihre spezifische, ihre ver- oder bezaubernde Wirkung nicht durch naturgetreue Wiedergabe des betreffenden Motivs entfalten. Sondern weil die gestalterischen Grundelemente, die sogenannten Mittel, die der jeweilige Gegenstand „von Natur aus“ in gebundener Form – diffus und in wechselseitiger Neutralisierung – wirken läßt, auch in Bildern eingesetzt werden, aber – und das ist ausschlaggebend – organisiert und zielgenau plaziert.  Das löst den Kick aus im Museum, deshalb rennt man hin.

Allerdings nicht zu Genre- und Historienbildern. Da nämlich, in der traditionellen Malerei des 19. Jahrhunderts, ist von den Mitteln nichts mehr zu spüren. Nach wie vor wirken sie bei Holbein & Co., wo sie – für den Betrachter unsichtbar – in der Gestalt des jeweils dargestellten Objekts aufgegangen sind. Die Malerfürsten hingegen, die dem Kaiserreich mit großflächigen Illustrationen großer Schlachten und anderweitig bedeutsamer Momente zu Herzen gehen („Er spricht mit Mutter“ – wird sie die Verlobte akzeptieren?): sie scheinen vergessen zu haben, daß und zu welchem Zweck es so etwas wie gestalterische Grundelemente gibt. Mit weitreichender Konsequenz: Die Verfremdung der dinglichen Erscheinungen etc., die „Erneuerung der Welt via Kunst“, die jede neue Generation neu zu leisten hat, findet nicht mehr statt.

Genau das ist Picassos kalte Stelle des Kopfkissens, die nach seiner Vorstellung jeder Künstler finden muß. 1906 spätestens, da ist er fünfundzwanzig, sind ihre Dimensionen erkannt, und er beginnt mit der Besetzung des Terrains: Wie Chemiker Substanzen einer Verbindung isolieren,  so isoliert er die Bildmittel (Punkt, Linie, Fläche, Farbe), befreit sie aus der traditionellen Verschmelzung.

Und dann kommt der Geniestreich: Nach neun Monaten, nach einem Entwicklungsprozeß, bei dem – inzwischen gezählt – 809 Studien (Zeichnungen, Aquarelle, Ölbilder) entstehen, weiß er sicher: Eine Figur bleibt eine Figur (Gertrude Stein „saß“ im Vorfeld Modell), sie kommt in Form, lebt geradezu auf, wenn die Mittel anders, nämlich frei zusammengesetzt werden. Fünffach bestätigen  Les Demoiselles d´Avignon (1907) diese revolutionäre Erkenntnis. Sie bildet das vitale Zentrum einer neuen Formensprache.

Ausgestattet mit neu sortierten Formulierungsbesteck und grenzenloser Neugier auf alles, was kreucht, fleugt oder auf irgendeiner Sitzgelegenheit Platz nimmt – in Wirklichkeit oder (später auch) in Bildern alter Meister –, bürstet er die tradierten Seherfahrungen gegen den Strich. Was also passiert, wenn die Farbfläche (z.B. eines Gesichts) von ihrer Kontur gelöst und daneben gesetzt wird? Wie verändert sich deren Ausdruck, wenn sie nicht durch glatt aufgetragene Farbe, sondern durch parallel geführte Streifen konstituiert oder durch Punkte aufgelöst wird? Er findet Antworten, Serien von Antworten und jede ist ein bis dahin nicht gesehenes Bild.

Weniger spontan als lange Zeit angenommen, sondern durchaus systematisch geht er dabei vor. Zwar bedient er sich primär der Malerei, aber er bezieht auch andere Medien in sein Fragespiel ein, wobei Grafiken, und zwar alle Verfahren, immer eine wichtige, im Spätwerk sogar die Hauptrolle übernehmen. Zwischen 1930 und 1937 z.B. erscheinen die 100 Blätter der „Suite Vollard“, Radierungen, oft mit Aquatinta wie sein erster (1899) und letzter Druck (1972). 347 grafische Arbeiten sind für das Jahr 1968 verzeichnet. 1958/60 rücken Linolschnitte (in der Mehrzahl farbig) vorübergehend ins Zentrum. Sie sind kunsthistorisch insofern interessant, als sich hier der erwähnte Rollenwechsel erstmals andeutet: Die formale Disziplin, die das Medium erzwingt, stabilisiert eine Qualität, die in den Ölbildern teilweise schon nicht mehr erreicht wird. Die Lithographien schließlich – um sie geht es im Museum Münster – entstehen konzentriert in der Zeit vom Spätherbst 1945 bis 1962.

Weit über 800 Blätter, das lithographische Gesamtwerk Picassos, hat Gert Huizinga (1927 in Lengerich/Westfalen geboren) in 50 Jahren zusammengetragen. Über die zufällige Bekanntschaft mit Marie-Thérèse Walter, Lebensgefährtin des Künstlers in den dreißiger Jahren (Picasso 1927: „Mein Name ist Picasso, ich möchte Sie malen“), vor allem aber durch die freundschaftliche Beziehung zu Picassos Drucker Fernand Mourlot, kommt er an seltene Blätter, an Arbeiten, von denen keine Auflagen, sondern nur Künstlerdrucke in geringer Anzahl existieren. Eine grandiose Sammlung, die seit kurzem in Münster gezeigt wird: ca.200 Exponate im ersten Angang und souverän präsentiert.

Aber nur Lithographien? Hätte Huizinga nicht, bei so viel Sachverstand, anders sammeln können? Von jeder Disziplin die Spitzenwerke beispielsweise, womit über die Linolschnitte – ein Nebeneffekt – auch etwas mehr Farbe ins Spiel gekommen wäre? Zehn Minuten in der Ausstellung und der Skeptiker mutiert zum Bewunderer. Auch deshalb natürlich, weil permanent unbekannte Blätter auftauchen. Insbesondere aber sind es die beispiellosen und so nur per Lithographie möglichen Serien wie Mädchen mit vollem Haar, Der Stier oder Die zwei Frauenakte, die offensichtlich besondere Anziehungskraft entfalten und Besucher – selten registriert vor Bildern in den letzten Jahren – zu leidenschaftlichen Debatten animieren.

Und da es bei diesen Reihen sechs-, elf-, einundzwanzigmal um das gleiche, leicht überschaubare Motiv geht, schiebt sich das „Spiel der Mittel“ in den Vordergrund, evoziert einen anregenden Ausbildungsgang über künstlerisches Sehen. So geht man entlang am Mädchen mit vollem Haar. Schrittweise verschwinden die Plastizität andeutenden Farbspuren der Gesichtsfläche, wird das Papierweiß durch leichte Straffung der Kontur des Kopfes optisch gestaucht, so daß über ein neu formuliertes Volumen ein veränderter Ausdruck entsteht. Unübersehbar in der Schlußversion die zeichenhaft-archaische Ausstrahlung des Kopfes! Zugleich aber wirkt er wie frisch geschminkt für eine Präsentation im 21. Jahrhundert.

Zu sehen ist, wie Der Stier, der als impressionistischer dösiger Jungbulle startet, mit Hilfe plastischer Formen, Funktions- und Kraftlinien, als wolle er ausdrücklich mit Dürers Rhinozeros konkurrieren, bedrohliche Stärke entfaltet und schließlich, im 11. Zustand, doch als Umrißlinie endet. Zum Event werden Die zwei Frauenakte, die zwischen November 1945 und Januar 1946 ihre dem Augenschein angenäherte Plastizität verlieren und als kubistische Figuren in einem kubistischen Boudoir landen.

Das Publikum der 50er und 60er Jahre feierte diesen Endzustand, der das Motiv nach einem Prozeß der Distanzierung vom Abbild irreversibel auf das ominöse „Wesentliche“ reduziert. Inzwischen, da seit langem auch Serien bekannt sind, die sich solcher Rezeption widersetzen, richtet sich das Interesse verstärkt auf die einzelnen Blätter. Weniger als Elemente einer zielfixierten Entwicklungsreihe, sondern nebeneinander, sogar rückwärts lesbar. Das Jonglieren mit gestalterischen Grundelementen setzt das Motiv in Bewegung, bringt die unterschiedlichen, z.T. divergierenden Möglichkeiten einer Person zur Entfaltung. Signifikantes Beispiel und ein Höhepunkt der Ausstellung: die 35 Zustände der Frau im Lehnstuhl. Die sichtbare Präsenz der Mittel sorgt dafür, daß die Tatsache des Hergestellten nie unter den Tisch fällt.

Gibt Münster den Anstoß zu einer neuerlichen Debatte über das formale Kernproblem Picassos und des 20. Jahrhunderts, zu einer Diskussion über Wert und Wirkung bildbezogener Mittel? Vielleicht verhilft ja das neue Grafikmuseum (seit 2010: Kunstmuseum Pablo Picasso Münster) der Kunst auf ihrem scheinbar alternativlosen Weg „vom Produkt zum Prozeß“ (Karlheinz Schmid) zu einer erhellenden Verschnaufpause.

 Erschienen in Konkret 11/2000

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