ARMIN SCHREIBER
KUNST-PATERNOSTER
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Latour ohne La Tour
 Die Kapitulation der Theorie vor dem Kunstwerk
 
        Bruno Latour

Wer auf seinem iPad herumscrollt, um sich über die Pariser Klimakonferenz oder Strategien zur Eindämmung globaler Zivilisationsschäden zu informieren, landet früher oder später bei dem französischen Wissenschafts- und Techniksoziologen Bruno Latour. Seine Prophezeiung – ein Update der Club-of-Rome-Prognose – hat sich rumgesprochen: Nur über einen grundlegenden Paradigmenwechsel wird der ökologische Kollaps aufzuhalten sein.

Als Wegweiser offeriert er die von ihm maßgeblich mitentwickelte „Akteur-Netzwerk-Theorie“ (ANT). Sie versucht, den Komplex „Kultur-Natur“ und im Zusammenhang damit das Begriffspaar „Subjekt-Objekt“ neu zu fassen. Präsentiert wird ein höchst verblüffendes Gesellschaftsmodell, in dem Menschen und Objekte – Naturdinge wie Artefakte – gleichrangig interagieren.

Ob hier tatsächlich ein „exzeptionelles“, „innovatives“, zumindest aber „anregendes“ Konstrukt vorliegt oder doch nur „eleganter Unsinn“ (Alan Sokal), darüber streiten Anthropo-, Ethno- und Soziologen schon seit Jahren. Ein Aspekt allerdings kommt dabei entschieden zu kurz: Seit der 11. Documenta (2002) – bei Okwui Enwezors „Kunst als Knowledge Production“ hat Latour Pate gestanden – greifen Kuratoren immer häufiger auf seine Vorstellungen zurück. Geradezu extensiv Carolyn Christov-Bakargiev bei ihrem Kasseler Event. Was da 2012 für Furore sorgte – erinnert sei an die Erdbeeren mit politischer Ambition und Kunst produzierende Tomatenpflanzen –, war mehrheitlich von Latours Hypothesen inspiriert, indirekt bestätigt durch CCBs Statement: „Die documenta 13 wird von einer ganzheitlichen und nicht logozentrischen Vision angetrieben. Diese Vision teilt und respektiert die Formen und Praktiken des Wissens aller belebten und unbelebten Produzenten der Welt, Menschen inbegriffen.“ Da sitzt sie, Latours Akteur-Netzwerk-Theorie: Man muß lediglich  „Produzenten“ durch „Akteure“ bzw. „Aktanten“ ersetzten!

Sie ist, versteht sich, auch bei den Biennalen in Venedig, in Istanbul, Sydney oder Shenzhen im Rennen, wird zitiert in Ausstellungs-Texten und taucht in Symposien sowie Lehrveranstaltungen von Kunsthochschulen auf.

Um ausfindig zu machen, wieso Kuratoren an Bruno Latour geradezu einen Narren gefressen haben, muß man für ein paar Minuten in sein System eindringen: mit Hilfe des  „Berliner Schlüssels“.

Berliner Schlüssel mit Halterung

1912: Um Einbrüche in Mietshäusern zu erschweren, entwickelte der in Berlin-Wedding ansässige Schlossermeister Johann Schweiger das sog. Durchsteckschloss und den dazugehörenden zweibärtigen Durchsteckschlüssel.  Eine geniale Erfindung! Wer nämlich nach dem Aufschließen seinen Schlüssel behalten wollte (und wer will das nicht), mußte ihn durchstecken, auf der anderen Seite erneut um 270° drehen, die Tür also schließen: Erst jetzt konnte er den Schlüssel rausziehen.


Wenn Sie 3 Minuten Zeit haben....
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Was, um mit Trappatoni zu fragen, erlauben Artefakt? Es überlistet den indisponierten Hausbewohner, zwingt ihn gleichsam, die Hausordnung zu befolgen, setzt sogar die Reihenfolge der zu bewältigenden Handgriffe durch: Es, das Objekt, gewinnt Handlungsmacht, die vorher der Pförtner, das Subjekt, innehatte.

Angesichts dieser (hier keineswegs voll ausgeleuchteten) Sachlage und der Tatsache, daß im Grunde bei allen Kontakten zwischen Menschen und Dingen derartige Konstellationen entstehen, wirkt – so Latour – die Vorstellung einer Trennung der beiden Sphären höchst artifiziell. Auch das altehrwürdige Axiom „Dinge sind passiv“ hängt an der Klippe. Im Gegensatz aber zu McLuhan, der ein Diktum Winston Churchills aufnehmend konstatierte: „Wir formen unsere Werkzeuge, und danach formen sie uns“, spricht er von einer Verschmelzung von Subjekt und Objekt via Praxis und bezeichnet die entstandenen Gebilde als Hybriden.

Gleichwertige Aktanten neben Menschen, Tieren und  Pflanzen

Artefakte also wie der Berliner Schlüssel, die künstliche Bodenwelle in der 30-km/h-Straße, das industriell gefertigte Insulin, Drehtür, Kaffeehaus-Stuhl, Fahrscheinautomat oder Ozonloch sieht Latour – neben Menschen, Tieren, Pflanzen – als gleichwertige Handlungsträger (Aktanten), wobei er den Umstand, daß sich Dinge nicht von selbst auf ein Ziel hin ausrichten können (Intentionalität), ausklammert. „Handeln“ heißt für ihn „andere Akteure modifizieren“, und das – siehe „Berliner Schlüssel & Co. – gelingt ihnen.

Latour prophezeit ihnen eine glänzende Zukunft: Vernetzt mit Naturdingen und menschlichen Akteuren werden sie zu machtvollen Impulsgebern einer sich neu konstituierenden  politischen Ökologie, die den gewünschten Paradigmenwechsel einleiten könnten. In einem „Parlament der Dinge“, in Super-Konventen oder Generalversammlungen – der Struktur nach vergleichbar mit germanischen Thingstätten – sollen sie, die nichtmenschlichen Aktanten, ihre Vorschläge einbringen, und zwar durch menschliche Repräsentanten, parlamentarischen Abgeordneten vergleichbar.

Unvermeidliche Frage: Woher  erhalten sie Kenntnis vom Wesen der Dinge – allgemein und speziell, wenn es darum geht, im Rahmen einer institutionalisierten Debatte deren jeweilige Interessenlage zu artikulieren?

Man könnte (u.a.) die Archive der Kulturgeschichte anzapfen, aber Statements philosophischer Herkunft (Martin Heidegger: „Das Ding dingt.“) oder

Auskünfte von Literaten (W.C. Williams: „Es gibt keine Ideen außer in Dingen.“), vor allem aber die bildnerischen Formulierungen der Stillebenmaler – Dingspezialisten seit eh und je – dürften jene Repräsentanten ohne kompetente Vermittlung nicht erreichen: Eine unwiderstehliche Offerte an Kuratoren, so scheint es, denn was hier indirekt nachgefragt wird, ist ihre ureigene, ihr Tun und Lassen nobelnde [1] Kompetenz!

Die Sache hat allerdings einen Haken. In Analogie zu seiner Definition von „Handeln“ sieht Latour Bilder – auch die Kreationen der Kategorie „Kunstwerk“ – als visuelle Zeichen, die dazu dienen, „den Zugang zu etwas anderem zu vermitteln“.

Bekanntlich wird dieses andere in einzelnen Bildern als ausdrücklich formulierte Fest-Stellung – also Fixierung – eines  komplexen, bedeutungsvollen Sachverhalts angeboten. Latour aber lehnt jedwede Fixierung von Bedeutung ab, was Sankt Lukas, Schutzpatron der Maler, auf die Palme bringen dürfte, denn es betrifft seine Schutzbefohlenen in besonderem Maße.

 

 

 

 

 

 

 



 

George de La Tour, "Der Falschspieler mit dem Karo-Ass", ca. 1620 (Detail)

In provozierender Zuspitzung ist die Absage an das Einzel-Bild in seinem Text „´Thou Shall Not Freeze-Frame´ or How Not to Misunderstand the Science and Religion Debate“ formuliert. Mit Bezug auf 2. Mose 20:4 („Du sollst dir kein Bildnis […] machen.“), ergänzt um die Bemerkung „Ja, wir beanspruchen, vom Stamme der Propheten zu sein!“ und die Annahme, Moses müsse die Vokabel „הקרושה“ (deutsch: erstarrtes) überhört haben, postuliert er: „Du sollst dir kein erstarrtes Bildnis machen!

Um die mythische Story ins Heute zu transponieren, nutzt er den Begriff „Freeze-Framing“, die Bezeichnung für ein filmisches Stilmittel, das eingesetzt wird, um Filme bei einem bestimmten (aussageintensivem) Bild anzuhalten, indem man es – je nach Dauer – 50 oder 500 mal hintereinander kopiert. Latours Prophetie: „Ein Einzelbild wird eingefroren, die Bewegung des Bildes unterbrochen, und aus dem Fluss jeweils erneuerter Bilder wird es als Einzelbild herausgelöst, sodass man glauben soll, es habe eine Bedeutung in sich selbst – und weil es keine hat, sobald es derart isoliert ist, soll es ohne Nachsicht zerstört werden.“

Ist eigentlich in der ANT eine Institution vorgesehen, die Gnadengesuche nichtmenschlicher Aktanten entgegennimmt?

Latours Position gegenüber ästhetischen Gestaltungen wird noch deutlicher im folgenden Statement:„ […] wir forschen nach […] einer reinen Welt, vollständig entleert von künstlichen, von Menschenhand geschaffenen Vermittlungen“! Damit fallen nicht nur Kunstwerke der Sparte „Malerei“ aus dem Fokus, sondern sämtliche Benennungen, Beschreibungen, Abbildungen, da sie im Zuge   ihrer Fabrikation – mittel- oder unmittelbar – einstweilen noch immer menschliches Bewußtsein durchlaufen.

Einen Bereich der wissenschaftlichen Kultur, obwohl auch da Künstliches (Apparaturen) im Spiel ist, klammert er – jagott, als einer „vom Stamme der Propheten“ wird er wissen, warum – aus: Laboratorien und vergleichbare Forschungseinrichtungen, in denen „Weißkittel“ (Latour), ausgehend von „Natur wie sie ist“ (und nicht von „Repräsentationen, die wir uns davon machen“), systematisch Wissen generieren. Wissensbeschaffung – Latours Credo – obliegt den Wissenschaftlern! „Sobald sie die Lösung gefunden haben, gehört das von ihnen Bewiesene klar zur Natur […]“. Dessen verbale Formulierung – Latour verweist u.a. auf Pasteurs Entdeckungen zur Milchsäuregärung – ist von der Natur „autorisiert“ und „beglaubigt“: in diesem Fall von einem Naturprodukt namens Hefe.

 
Luis Pasteur                       Hefe

Bilder der Kategorie „Gemälde“ finden in Latours Theorie keinen Platz. Und die Frage, gestellt von Thomas Hensel und Jens Schröter im Intro zu einem Workshop (Universität Siegen, 2011), ob sein Ansatz vielleicht prinzipielle Grenzen habe hinsichtlich der Prozesse und Objekte, die unter dem Signum ´Kunst´ zirkulierten, ist rein ritueller Natur. Was via Kunstwerk zum Ausdruck kommt, kann man ohne Substanzverlust nicht in Sachtexte transponieren. Die ad hoc erfahrbare Wahrheit des Bildes vermittelt sich primär über visuelle Form, und ein Äquivalent für die immer anwesende Form im Bild läßt sich im Text nicht etablieren.

Was also suchen Kuratoren in einem Theorie-Gebilde, das Kunstwerke, denen nach landläufiger Vorstellung ihr allerhöchstes Interesse gilt, nicht zu integrieren vermag? Ist es die Herausforderung, doch noch einen Modus Operandi zu finden, das in Kunstwerken gespeicherte Weltwissen mit der wissenschaftlichen Sicht in Beziehung zu bringen, und zwar jenseits einer simplen Indexierung? Nein, von derartigen Ambitionen ist in der Szene nichts bekannt. Stattdessen gibt man sich progressiv und fordert – formuliert von Enwezor, einem der Stars unter den weltweit agierenden Kuratoren: „Wir wollen eine Kunst, die der verbreiteten Ansicht entgegentritt, alle Kunst sei sich selbst genug und besitze eine eigene Sprache, die anderen Disziplinen keinen Zugang ermögliche.“ Anders gesagt und darauf läuft es hinaus: Man will auf Kunst verzichten und Bilder auswerten wie Querschnitte mittelalterlicher Kloaken oder Montageanweisungen von Ikea-Regalen. 

Was sie bei Latour suchen (und offensichtlich finden), ist eine Art Persilschein[2],  sind Hilfestellungen zur Gewinnung von „Inkompetenzkompensationskompentenz“ (Odo Marquard).Denn offensichtlich gehören inzwischen auch Kuratoren zu „den meisten“, denen die Form, wie Goethe konstatierte, ein Geheimnis ist[3]. Man kapituliert vor dem Epiphanischen und also der Zumutung der Kunst und verfügt sich – eine mentale Vollkaskoversicherung – in die Obhut einer Theorie, die Künstler wie Kuratoren selbstverständlich nicht zurückpfeift, wenn sie „Ausstellungen im Kontext auch weniger bildnerischer Disziplinen verorten“ (Informationsdienst Kunst anlässlich der 9. Berlin Biennale und der Manifesta 11, Zürich). Das Jugendliche eines Glaubens an die speziellen Energien der Kunst muß ihnen verlorengegangen sein.

Kurzum: Eine Annäherung zwischen dem Soziologen Bruno Latour, 1947 in Beaume als Sproß einer Winzerfamilie zur Welt gekommen, und dem Maler Georges de La Tour, 1593 als Sohn eines Bäckermeisters aus Vic-sur-Seile geboren, wird es vorerst nicht geben. Dabei müßte ihn, Bruno Latour, das folgende Faktum geradezu faszinieren: Wie er bei der Wissensproduktion „die Apparaturen sichtbar machen [will], durch die sich etwas über die Natur sagen läßt“, so nimmt de La Tour die Lichtquelle mit ins Bild, durch die das Geschehen modelliert, ja, überhaupt wahrnehmbar wird. Manko: Was der Maler de La Tour – er fungiert hier als pars pro toto – zur Welt bringt, ist nicht zu verschlagworten.

Frau mit dem Floh

La Femme à la puce, 1638

So werden „La Femme à la puce“, die bei Kerzenschein im Nachtgewand auf einem Hocker sitzend den Floh knackt oder „Hiob und seine Frau“ nie in Latours Aktanten-Gehege auftauchen. Irgendwann aber wird man sie dort vermissen! 

[3] „Den Stoff sieht jedermann vor sich, den Gehalt findet nur der, der etwas dazuzutun hat, und die Form ist ein Geheimnis den meisten.“ (Maximen und Reflexionen)

 

konkret 8/2016

 

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