ARMIN SCHREIBER
KUNST-PATERNOSTER
 Index   Home   Unterricht im Puff   Anita Albus   Impressum   Links

     
Anita Albus: Erinnerungen an die Zukunft
     

In der Schlußsequenz ihres Buches Die Kunst der Künste. Erinnerungen an die Malerei gibt Anita Albus – Malerin und Schriftstellerin – das Motiv ihrer dreieinhalbjährigen Beschäftigung mit dieser Thematik bekannt. Es „war der Wunsch zu begreifen, warum ich malend nicht weiterkam, und die Hoffnung, am Ende meiner Rätselreise das Tor der Malerei wieder geöffnet zu finden“.

Georg Flegel, "Raucherstilleben", ca. 1630

Dass sie, die ihre akribischen Blumen-Porträts von Orchideen, Lilien und Akeleien mit selbstgefertigten Aquarellfarben in altmeisterlicher Technik ins Bild bringt und Künstler aus dem 16. und 17. Jahrhundert wie Georg Flegel oder MariaSibylla Merian als ihre Vorläufer nennt, dass sie bei den Stars des gegenwärtigen Kunstbetriebs keine Lösungsangebote finden kann und will, liegt auf der Hand. Wen unter den Protagonisten der heutigen Ausstellungsszene [1997], deren Avantgarde sich ohnehin längst verabschiedet hat von Malerei und Tafelbild, sollte sie wohl auch fragen?

Anita Albus, "Schachbrettblume"
Link zum Bild

Aber ihr geht es um mehr als die Bewältigung einer individuellen Krise. Was zunächst nur in Nebensätzen und Fußnoten artikuliert wird, kommt schließlich in einer längeren Passage des vierten und letzten Teils mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck. In einem zwanzigseitigen, zwischen Schärfe und Melancholie changierenden Lamento liest sie uns und der Postmoderne die Leviten: Nach dem Sieg der Darstellung über das Dargestellte habe die Malerei ihren Gegenstand verschlungen und zeige nur noch sich selbst; wir seien Gefangene eines technischen Universums, in dem die fortschreitende Verarmung des Naturkosmos einem immer kärglicheren Kulturkosmos entspreche: „Wir spotten über die Salonmaler des 19. Jahrhunderts wie das 21. über unseren kolossalen Tand spotten wird, dessen Geistesverwandtschaft mit totalem Kitsch uns nur deshalb entgeht, weil wir uns wie der gescheite Hans im Märchen verhalten“, der, das sei angemerkt, neue Situationen nicht durchschaut, weil er ihnen mittels einer wortwörtlich übertragenen, nicht mehr greifenden Handlungsanweisung vom jeweils gestrigen Tag zu Leibe rückt.

Mit solchen Invektiven, die vorerst – soweit das zu übersehen ist – nur sporadisch ins Licht der Öffentlichkeit geraten, dürfte auch Anita Albus bei den ins Visier genommenen Adressaten einstweilen noch auf Ablehnung stoßen, selbstverständlich! Gleichwohl steht sie nicht allein: Auf  Enzensbergers Aporien der Moderne (1962) weist die Autorin selbst hin, desgleichen auf Tom Wolfs The painted World (1975), das in deutscher Übersetzung (Worte in Farbe) 1992 erschien, aber kaum beachtet wurde. Für eine Minimal-Irritation sorgten Noltes Kollaps der Moderne (1989) und das Kursbuch 99 (1990). Etwas mehr Wirbel dagegen verursachte Eduard Beaucamps kunstkritische Bußpredigt Ausbruch aus der Fortschrittskarawane vom 17. Juli 1993 in der FAZ.

Im Unterschied jedoch zu ihren Vor- und Mitstreitern, die es bei der kritischen Bestandsaufnahme des Status quo und einem eher vage formulierten Rufen nach Um- oder Neudefinition der Werte und Perspektiven belassen, will Albus offensichtlich einen Schritt weiter gehen und sie wird konkret: „Torniamo all´antico ed il sarà un progresso!“ Im Sinne dieser Verdischen Maxime fasst sie die Malerei des 15. Bis 17. Jahrhunderts ins Auge, konfrontiert die von „kryptischen Philosophen“ dominierte Gegenwartskunst mit ihrer Geschichte, mit den bildnerischen Manifestationen einer Epoche, in der noch die von Dürer sogenannte „inwendige Figur“ und der Hand-Auge-Apparat des Künstlers das ästhetische Feld beherrschten.

 
Jan vam Eyck, "Rolin-Madonna", 1435

Ausgehend von van Eyck, Rogier van der Weiden und einem Abstecher zu Memling, deren Weltbilder noch „aus der Perspektive und im Lichte Gottes“ gesehen sind, zugleich aber schon, durch die Geometrisierung des Bildraumes, dessen Profanisierung einleiten, über die Landschaften Davids, Altdorfers,  und Patinirs, in

Joachim Patinir Heiliger Hieronymus in Felslandschaft

Joachim Patinir, „Heiliger Hieronimus in Felsenlandschaft“,1515/24

denen sich die Verweltlichung der Sujets fortsetzt, führt ihre „Reise“ zu den Raucher- und Blumenstilleben (Flegel, Goedaert) und endet schließlich bei einem barocken Waldboden-Spektakel des Otto Marseus van Schrieck, den seine Künstlerkollegen „Snuffelaer“ nannten, weil er permanent „herumschnüffelte“ auf der Suche nach Schlangen, Lurchen, Fröschen und Insekten.

Angepeilter Zeitraum und Auswahl der Künstler – Burgmair und Grünewald, die Expressionisten unter den Renaissance-Malern, tauchen selbst in den Fußnoten nicht auf – machen deutlich, dass sich Albus für ein bestimmtes Phänomen dieser Epoche interessiert, für die Emanzipation und Entfaltung der dinglichen Welt, und zwar in Verbindung mit einer auf die Erscheinungen der Natur hin ausgerichteten besonderen Haltung: Pflanzen, Tiere, Gegenstände, Landschaften, bis dahin nur „Beiwerk“ und entsprechend honoriert von den Auftraggebern, erfahren eine zuvor nie gekannte Zuwendung seitens der Künstler.

Otto Marseus van Schrieck, "Stillleben mit Insekten und Amphibien", 1662.

Getragen von der Vorstellung, über die hingebungsvolle (van Eyck: „Als ik kann“) „Rekonstruktion der Schöpfung“ und das – insofern Gott ähnlich –Eingehen in ihr Werk einen sozusagen komprimierten Gottesdienst leisten, bringen sie sichtbare Realität in bedeutungsvoller Schönheit ins Bild, ausgestattet mit dem „hohen visuellen Gewicht“ der Lasur-Malerei, das sich umsetzt in dezent, aber nachhaltig wirkende Anwesenheitsenergie.

Bis ins 16. Jahrhundert hält diese Vorstellung der Gottähnlichkeit des Künstlers, die seinen Kreationen jene spezifische, zwischen Ideal und Realität ausbalancierte inbildhafte Gegenwärtigkeit verleiht. Doch bereits mit Flegels Stilleben ändert sich die Sachlage. Zwar erinnern die Gegenstände noch an die Trompe-l’œil-Nischen der religiösen Bilder frühniederländischer Herkunft, aber der Modus ihrer Präsenz hat sich verändert: Die Aura des Transzendenten ist verlorengegangen. Sie existieren nicht mehr –unverrückbar vorhanden – auf der „Augen-Weise“ zwischen Himmel und Erde, sondern erscheinen – wie zufällig entdeckt – in Ecken und auf Tischen.

Auch Goedaert gehört, oberflächlich gesehen, in diese auf van Eyck folgende Reihe. Und Albus entdeckt bei ihm noch einmal jene Hingabe, jene Fähigkeit der Künstler, „in ihrer Malerei zu verschwinden“.

 

 

Jan Goedaert. "Bukett in chinesischer Vase mit verschiednen Insekten und einer Schnecke", ca.1650

Hier allerdings muß man einwenden, dass Goedaert nicht mehr – wie noch seine Vorgänger – von den Dingen ergriffen wird. Vielmehr versucht er – insofern den Naturwissenschaftlern seiner Zeit vergleichbar – seine Objekte durch genaueste Beobachtung zu begreifen, was auch in der präzisen Darstellung der Insekten (Stachelbeerspanner, Admiral, Ameise, Fliege, Blaue Ödlandschrecke, Erd-oder Gartenhummel) und der Schnirkelschnecke am rechten unteren Bildrand deutlich wird. Das vermittelt sich auch dem Betrachter.

Merkwürdigerweise spielen bestimmte, die Gestalt der Bilder, ihre ästhetische Dimension betreffende Fragen in den „Erinnerungen“ der Autorin (und Malerin) kaum eine Rolle. Ausführlich und in eingängigen, z.T. sehr schönen, bildhaft-präzisen Formulierungen beschreibt sie die Technik der Lasur-Malerei, widmet ein 80-Seiten-Kapitel – einer der Höhepunkte ihres poetischen Sachbuchs – dem Bleiweiß, Grünspan, Malachit usw., den „verlorenen Farben“ der alten Meister und liefert zum Schluss noch ein Glossar, in dem so klangvolle Begriffe wie „Paragone“, „Prima-Malerei“ und „Pfropfchimäre“ erläutert sind. Über formale Fragen indessen wird nur sehr kurz und am Rande gesprochen.

Jan van Eyck, "Rolin-Madonna", Ausschnitt

An den Details interessiert sie weniger deren bildnerische Funktion, sondern vor allem ihr „versteckter Symbolismus“. Die Elstern beispielsweise in van Eycks Rolin-Madonna: Kein Wort darüber, daß die zwei schwarz-weißen Vögel auf dem Gartenweg – ein optischer Hammer der Güteklasse I – die Farbigkeit des Umfeldes deutlich steigern und durch ihre Stellung und gestaffelte Anordnung die Räumlichkeit der Situation erst erlebbar wird. Demonstrieren nicht gerade sie, gleichsam pars pro toto und auf überzeugende Weise, wie mühelos van Eyck die Umsetzung der Konstruktion in bildnerische Gestalt bewerkstelligt?

Albus dagegen verwickelt die beiden Vögel in eine – allerdings höchst unterhaltsame – Spekulation: Wurde der Maler durch den Auftraggeber gebeten, den auf der Unterzeichnung noch vorhandenen dicken Geldbeutel zu übermalen? Könnte er seiner Bitte Nachdruck verliehen haben durch den Hinweis auf Rogier van der Weyden, der ja auch nicht schlecht male? Und hat schließlich van Eyck dem mächtigen Kanzler Rolin ein Schnippchen geschlagen: durch das Hinzufügen der „diebischen Elstern“?

Abgesehen von der Darstellung des niederländischen Tulpenwahns im Zusammenhang mit Goedaerts Blumenstilleben (1634-37: eine Zwiebel der Sorte „Vizekönig“ kostete 2500 Gulden, 8 fette Schweine waren zur gleichen Zeit für 120 Gulden zu haben), geht es auch sonst vornehmlich um die den Dingen „eingelegten Bedeutungen“.

Gerard David, Außenseiten des Triptychons "Geburt Christi mit Stifter und den Heiligen Hieronymus und Leonard", 1508

So nimmt sie z.B. Altdorfers Laubwald mit dem heiligen Georg zum Anlass für eine soziokulturelle Betrachtung über Drachen und Drachentöter. Davids Waldlandschaft bildet den Ausgangspunkt für die Beschreibung allegorischer Verknüpfungen von Mühle und Mutter Gottes. Und die zwei Erdbeeren in Flegels Raucherstilleben evozieren u.a. Ausführungen zur antiken „Säfte-Lehre“, zudem den anrührenden Hinweis, dass diese Früchte im Volksglauben als Nahrung galten für die Seelen verstorbener Kinder, weshalb man heruntergefallene Beeren nicht aufhob.

Solche Informationen sind interessant, zumal es Anita Albus gelingt, ihre Entdeckungen verschiedener Provenienz auf subtile Weise zu verknüpfen, so dass über den Nachweis allegorischer, mythologischer, religiöser, alchemistischer und wissenschaftlicher Bezüge die Vorstellung einer mehrdimensionalen Dingwelt entsteht, in der die heutzutage favorisierte utilitaristische Sicht nur einen Aspekt ausmacht.

Aber hat nicht – tückischerweise – die Aversion gegenüber dem Tiefsinn hinter den Dingen, einer im 19. Jahrhundert reüssierenden Mutation der „versteckten Symbolik“, mit dazu beigetragen, die auch von Albus beklagte Entfernung des Gegenstandesaus der Malerei zu beschleunigen?

In ihrer Vorstellung von Kunst bzw. Malerei stehen Intensität des Blicks, Hingabe an die Natur und handwerkliches Können, insbesondere der Umgang mit Farben, an erster Stelle.  Angesichts der Gewichtung leuchtet die Schlussfolgerung ihrer „Erinnerungen“ durchaus ein: jene Fähigkeiten zurückzugewinnen, die ihre Protagonisten besaßen. „Nicht um das Gleiche zu machen wie sie, sollten wir bei ihnen anknüpfen, sondern um am Gleichen teilzuhaben…“

Nun sind derartige „Erinnerungen an die Malerei“ eine Sache. Aus diesen Erinnerungen Anhaltspunkte für eine Zukunftsperspektive zu gewinnen, eine andere – und schwierigere. Denn so ohne weiteres ist ein Kurzschluss zwischen Renaissance und dem 21. Jahrhundert nicht herzustellen. Hier – und das muß bei aller Begeisterung für den weitaus größten Teil ihres Buches gesagt werden –fehlen ein paar prinzipielle Hinweise darüber, wie sich die von ihr gewünschte Anknüpfung unter den heute gegebenen Bedingungen vollziehen könnte

Dass sich Sehgewohnheiten ändern, Bildmittel also, um ihre Wirkung zu erhalten, permanent neu organisiert, nachjustiert werden müssen, dass sich Dinge – z.B. durch die Erfindung der mechanischen Bildmedien Foto, Film, Video – in veränderten Konstellationen zeigen; dass virulente „inwendige Figuren“, mit denen Künstler heute auf die Realität zu- und eingehen, nicht mehr die des van Eyck oder van Schrieck sein können und warum: solche die formale Komponente der Malerei betreffende Fragen treten in ihren Darlegungen nicht deutlich genug in Erscheinung.

Eine Bündelung der zahlreichen am Rande (und in den Fußnoten) kurz vermerkten Details und ihre Erweiterung zu einen fundierten Exkurs über das ABC bildsprachlicher Formulierungen hätten sowohl ihrer Kritik der Gegenwartskunst als auch den Schlussfolgerungen am Ende des Buches mehr Nachdruck und Überzeugungskraft verliehen.

Möglich ist, daß Anita Albus über einen traditionsbewußten Blick auf die Kunst, der sich wohltuend abhebt von einem ins Beliebige ausgeuferten „erweiterten Kunstbegriff“, für sich das Tor zur Malerei neu geöffnet hat. Und auf jeden Fall werden Leser ihres Buches die Sektion „Alte Meister“ beim nächsten Museumsbesuch mit anderen Augen absolvieren! Ob aber von ihrer Arbeit auch ein Impuls für die zukünftige Malerei ausgehen wird, bleibt fraglich.   

Erschienen in der NZZ, 26./27. April 1997

 
HOME