ARMIN SCHREIBER
KUNST-PATERNOSTER
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Unterricht im Puff
Picasso trifft Einstein
     

Ernst Peter Fischer, Einstein trifft Picasso und geht mit ihm ins Kino oder Die Erfindung der Moderne, München: Piper 2005:

17 Euro 90  kostet die 240-Seiten-Inszenierung einer virtuellen Begegnung Picassos mit Albert Einstein, arrangiert von Ernst Peter Fischer, Professor für Wissenschaftsgeschichte in Konstanz: Ein ambitioniertes, ein höchst gewagtes Unterfangen! Denn immerhin äußerte sich Einstein dahingehend, daß Picassos neue Sprache der Kunst nichts mit der Physik der Relativität gemein habe und Picasso – nach eigenem Bekunden – verstand von Einsteins Theorie „kein Sterbenswörtchen“. Mehr noch, er bezeichnete, was man dem Kubismus an Mathematik, Geo- und Trigonometrie etc. zwecks leichterer Deutung unterlegte, als „Literatur, um nicht zu sagen Unsinn“. Was also soll bei einem solchen Rendezvous herauskommen?

Wie immer bei Fischer und hier Picassos Publizität im Blick: „Publik Understanding of Science“.

Selbstverständlich kennt der Autor die Äußerungen seiner Protagonisten. Aber er vermutet, daß Einsteins „Raumzeit“ etwa oder Heisenbergs „Unschärferelation“ – allein fachspezifisch kommuniziert als Kombination von Zahlen und Symbolen –  beim Laienpublikum nicht ankommen. Anders als die Erklärung des Fieberthermometers, ist Physik dieser Kategorie intuitiv nicht zu erfassen. Möglicherweise jedoch über geformte, also ausdrucksfähige bildhafte Interpretationen resp. Erfindungen, über Anleihen bei der Kunst kurzum.

Picasso Demoiselles

Pablo Picasso, "Les Demoiselles d’Avignon", 1907

Nach einem Blick auf „kinematographische Bilder“ der Jahrhundertwende, in denen erstmals Zeit und die dazugehörende Örtlichkeit via Schnitt verschwinden, geht’s zu Picasso, zu den Lektionen der Demoiselles d´Avignon (1907). Die Damen sollen jene antiintuitive Entität namens „Raumzeit“ im Kopf des Lesers unterbringen, wobei anzumerken ist, daß sich der Titel auf das Innere eines Etablissements in der Carrer d´Avinyó zu Barcelona bezieht, einer Straße, in der Picasso u.a. seine ersten, ja, Wasserfarben gekauft hat.

Zwei Aspekte der Demoiselles  – 1912 lautet der Titel noch le bordel  philosophique – interessieren Fischer besonders. Erstens die Performance der rechts im Bild sitzenden Frau. Sie nämlich präsentiert sich nicht mehr, wie zuvor in den Darstellungen der Rosa Periode, im Modus illusionistischer Wiedergabe, nicht mehr, so Carl Einstein, „als ein Kompromiß zeitlich getrennter Wahrnehmungsteile“. Sie erscheint antinaturalistisch, d.h., über einfache Formen in relativ freier Kombination der Mittel so ins Bild gesetzt, daß in der Figur drei nacheinander registrierte Ansichten gefaßt sind: Man sieht ihren Rücken, zugleich den Kopf von vorn und von der Seite.

 

Es entsteht kein Seh-Bild, sondern – strukturell identisch mit Kinderzeichnungen oder sog. primitiver Kunst – der Ausdruck einer inneren Vorstellung.

Aber hat Picasso damit – Fischers Interpretation – Zeit in Raum verwandelt, mithin einen Weg gewiesen, „Zeit zu malen“? Und was hat dann etwa Sano di Pietro im Jahre 1449 getan, wenn er links hinten im Bild die arme Witwe den hl. Blasius um ein Wunder bittend zeigt, und im Vordergrund die Witwe noch einmal: jetzt neben dem Wolf, der ihr  tatsächlich das von ihm gestohlene Ferkel zurückbringt?

Einen Bezug zu Einstein sieht Fischer auch in der Art und Weise, wie Picasso hier Raum imaginiert. An die Stelle der allseits gebräuchlichen Zentralperspektive tritt ein Verfahren, das Kahnweiler später als „Technik der überlagerten Ebenen“ („plans superposés“) bezeichnete. Dinge und Figuren überschneiden sich partiell, wirken wie hintereinander postiert, was beim Betrachter den Eindruck von Räumlichkeit auslöst. Fischer: „Wer versuchen würde, die Personen und Gegenstände aus dem von Picasso gezeigten Zimmer zu entfernen, würde den Raum mitnehmen. Genau das sagt Einstein über die Welt. Wir sehen es hier im Bild.“

Nein. Wir sehen es nicht. Die Zone zwischen der linken und rechten Gruppierung, die Fischer als Raum anspricht – „er gibt sogar ein Wenig von seiner Farbe (Blau und Weiß) an die Figuren weiter“ – , ist nicht Raum, sondern, angesiedelt auf der gleichen Stilisierungsebene wie die Frauen, blauer faltenwerfender Vorhang: Ein ironischer Verweis auf die Gewandkatarakte (Ultramarinblau, extrem teuer, war für die Madonna reserviert) gotischer Mariendarstellungen, so wie die Weintrauben des Früchtestillebens am unteren Bildrand an Zeuxis, den antiken Begründer des Illusionismus, erinnern, dessen gemalte Trauben, weil täuschend echt, der Überlieferung nach von Vögeln attackiert worden sein sollen.

Wir sehen, was die Damen im Schilde führen. Sie verkörpern Picassos Auseinandersetzung mit den tradierten Konventionen der europäischen Kunstgeschichte und markieren erste Konsequenzen, was in der Umformung der Venus von Milo (sie galt im 19. Jahrhundert als die Schönheit schlechthin und figuriert hier als die mittlere der fünf Demoiselles) zum Ausdruck kommt: der Beginn einer fundamentalen Revitalisierung der Bildsprache.

Die Verankerung der „Raumzeit“ in unserem Bewußtsein aber gelingt den Fräuleins nicht. Auch wenn man davon ausgehen kann, daß „innere Bilder“ naturwissenschaftliche ebenso wie künstlerische Erfindungen evozieren und damit Fischers Idee, physikalische Feststellungen über Gemälde volkstümlicher zu machen, auf den ersten Blick als sinnvoll erscheint: die Demoiselles bringen einen ganz bestimmten, überaus komplexen Sachverhalt zum Ausdruck und der hat – und hier sollte man Einsteins Bemerkung über Picassos neue Sprache der Kunst akzeptieren – mit den ebenso komplexen, gänzlich anderen Entdeckungen im Bereich der theoretischen Physik tatsächlich nichts zu tun.

Dieses in gewisser Hinsicht sogar animierende Mißverständnis allerdings läßt sich verkraften. Fischers Fähigkeit nämlich, Wissenschaft zu „erzählen“, ist außergewöhnlich und belegt, daß eine narrative Vermittlung mehr bringt als die Instrumentalisierung von Bildern. Wer schon immer mal wissen wollte, was es mit den legendären Begriffen wie „Quantensprung“, „Relativitätstheorie“ etc. oder dem „Reichskanzler der Physik“ auf sich hat, der sollte die 17 Euro 90 investieren.

Konkret 1/2006

 

   
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