ARMIN SCHREIBER
KUNST-PATERNOSTER
 Index    Home   Wenn es plinkt!     Impressum   Links

     
Wenn es plinkt!    
Das Kunsterlebnis im neuro-biologischen Zeitalter
     

St.Franziskus perdigt den Vögeln

Giotto, "St. Franziskus predigt den Vögeln",
um 1295

Kürzlich, in der Tate Gallery vor Stanley Spencers „Saint Francis and the Birds“, erlebte ich die exorbitante Performance eines Museumsbesuchers, dessen Versuch nämlich, den himmelwärts gerichteten Blick und die akrobatisch verdrehten Arme und Beine des Heiligen, die das anwesende Federvieh mehr als alles andere zu beeindrucken scheinen, nachzuahmen:
Ein Anblick für die Götter, und das bei freiem Eintritt! Hatten ihm seine „mirror neurons“ einen Streich gespielt oder karikierte er hochbewußt die durchs Kunsterlebnis ausgelöste Zustandsveränderung?

Stanley Spencer, "St. Francis and the Birds"
Link zum Bild

Zu den wenigen Überraschungen der letzten documenta zählte ein die Auswahlkriterien betreffendes Aviso der Kuratorin Ruth Noack. In einer Kunstzeitungs-Kolumne (9/2006) gab sie bekannt, wichtig sei ihr die Verführung zu unerwarteten Einsichten, bei denen die beglückende Beziehung zwischen Betrachter und Kunstwerk auf einer anderen Gewißheit als der des Altbekannten fuße. Bemerkenswert an dieser Verlautbarung war nicht deren nahezu 100%-ige Folgenlosigkeit, sondern, daß sie überhaupt öffentlich formuliert wurde, und zwar von einer – temporär zumindest – exponierten Figur der Kunstszene.

Damit war ein spezifischer Modus der Kunstrezeption angesprochen, der seit dem 18. Jahrhundert als ästhetisches Erlebnis (Baumgarten) firmiert, im 19. Jahrhundert unter der Bezeichnung Kunsterlebnis volkstümlich wurde, aber im aktuellen Diskurs schon seit den 70er Jahren keine Rolle mehr spielt. Zwar offeriert die Tourismusindustrie, fasziniert von der noch immer nachwirkenden Aura des Begriffs, das generationsübergreifende, spezielle, hautnahe, delikate, ultimative Kunsterlebnis. Selbstverständlich binden Museen, Messen (Art Cologne: „Kunsterlebnis pur“) oder Großveranstaltungen wie die documenta die offenbar vielversprechende Vokabel in ihre Marketing-Strategien ein. Tatsächlich aber  – das vermitteln Katalogtexte, Exponate und Ausstellungsdesign des Kasseler Events – zielen avancierte Kuratoren, wenn sie zum „Bespielen“ antreten, auf nichts weniger ab als auf eben dieses Erlebnis. „Theorie-Karaoke“ (Pierangelo Maset) steht entschieden höher im Kurs. Selbst eine Ausstellung wie die „Über Schönheit“ (2005) im Berliner Haus der Kulturen hatte ausdrücklich nicht die „sinnliche Reaktion des Betrachters auf ´schöne Bilder´“, also ein Kunsterlebnis im Blick, vielmehr ging es darum, den Begriff Schönheit – so der Kurator Wu Hung aus Chicago – „als ein Feld für Problematisierungen in der Produktion und in der Würdigung heutiger Kunst“ neu zu fassen.

Weitgehende Zurückhaltung auch bei Kunst- bzw. Bildwissenschaftlern: Versuche etwa, den Begriff neu zu konnotieren, sind rar, beschränken sich bislang auf  relativ wenige Arbeiten, die den Ausstellungsbetrieb nicht erreichen. Interessant ist in dem Zusammenhang der Hinweis Hans Ulrich Gumbrechts am Schluß seines Essays Epiphanien, er habe sich, um Mißverständnissen vorzubeugen, daran gewöhnt, einen bestimmten, durch das ästhetische Erleben ausgelösten Zustand mit einer umgangssprachlichen englischen Redewendung (to be in synch with the things of the world) zu charakterisieren. Die eigens angehängte Fußnote, er reagiere mit der Erläuterung des Ausdrucks „in Einklang sein“ auf den Einwand eines Kollegen, verführt zu der Vorstellung, es stünden hier mehr als nur Begriffsklärungen zur Debatte: Offensichtlich existiert neben der Venustraphobie, der Angst vor schönen Frauen, die Angst vor den Schönen Künsten, vor dem Kunsterlebnis.

Was Dürer über die Schönheit feststellen mußte, daß er nicht wisse, was das sei, wiewohl sie vielen Dingen anhänge, dürfte auch für das Kunsterlebnis gelten. Wer also hier definiert, macht sich zum Narren: Ausgelöst wird es durch komplexe, via Gestalt formulierte Mitteilungen über ästhetisches Erleben; über Bilder also, die bestimmte intensive Momente fixieren, in denen das Gefühl des In-der-Welt-Seins  kurzfristig alle anderen Empfindungen und Vorstellungen überlagert. Gebunden an das dargestellte Motiv kommt über die Formgebung ein abstraktes Element ins Spiel, das die konkrete Erscheinung mit Ingredienzien der Transzendenz auflädt. Der Betrachter kann die spezifische, jedwede Alltagsanmutung der Dinge übersteigende Faszination ad hoc nicht analysieren, aber – die Form scheint unmittelbar auf den Stoffwechsel einzuwirken – intuitiv spüren: als eine Art fortlaufendes Vibrieren zwischen entfachter Sehnsucht und ihrer Beruhigung durch das Bild. Oder anders gesagt: Man möchte im Bild bleiben und zugleich die physischen Gegebenheiten der dargestellten Situation hinter sich lassen, dem näher kommen, was das Kunstwerk verspricht.

Aussagen über psychische Vorgänge dieser Art machte bereits Pythagoras im 6. vorchristlichen Jahrhundert. In einem von Diogenes Laertios überlieferten Text vergleicht er das Leben mit einer Festversammlung: „Die einen kommen zu ihr als Wettkämpfer, die anderen des Geschäftes wegen, die besten aber als Zuschauer.“ Hier also werden erstmals jene Individuen aktenkundig, die – wie man später sagen wird – eine ästhetische Haltung einnehmen. Nach Aristoteles folgt dieser Haltung ein Erlebnis intensiver Lust, das aus dem Schauen und Hören geschöpft ist und er fügt hinzu, diese Lust sei so stark, daß sich der Mensch kaum davon losreißen könne.

Aristoteles (Raffael, Schule von Aten)

Raffael, „Die Schule von Athen“, 1510/11 (Ausschnitt: Aristoteles)

Im Kern ist damit fixiert, was noch immer das Zentrum diesbezüglicher Definitionen ausmacht: die emotionale Komponente. Und selbst für den gegenwärtig erforderlichen Appell an den Diskurs, den Gehalt ästhetischer Wahrnehmung – auch wenn er begrifflich nicht zu fassen ist – wieder als sinnvolle Gegebenheit zu akzeptieren, gäbe es Hilfestellung bei Aristoteles. Er spricht von der „Namenlosigkeit des Sinnlichen, das sich nennt, indem es sich zeigt“. Desgleichen läßt sich seine Vorstellung, jene intensive Lust stamme aus den Eindrücken selbst, mittels neuerer Befunde der Neuro- und Evolutionswissenschaften bestätigen.

Zuvor eine kurze Reminiszenz an einen Top-Terminus der Ästhetik-Debatte des ausgehenden 19. Jahrhunderts: „Mudi würde im Boot liegen und Wasserrosen (...) aus dem schlammigen Erdreich ziehen, oder über Einfühlung reden, das war ja jetzt so ein Schlagwort.“ Der Satz entstammt der 1910 erstmals veröffentlichten Erzählung „Glück in Dornen“ von Irene Forbes-Mosse, einer Enkelin Bettina von Arnims und zeigt, daß „Einfühlung“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch außerhalb akademischer Gefilde en vogue war. Begonnen hatte die Karriere des Begriffs im 18. Jahrhundert. Neben Herders Formulierung  – „Ein Mensch, der stark in sich selbst ist, fühlt sich nur in weniges, aber sehr tief hinein “(1774/78) –  war es dann vor allem Novalis´ legendäre Sentenz aus dem posthum gedruckten Romanfragment „Die Lehrlinge zu Sais“ (1802), die jene romantische Aktivität reüssieren ließ und mit einem Etikett versorgte: „So wird auch keiner die Natur begreifen,  (...) der nicht  (...) sich gleichsam in sie hineinfühlt.“ Der Sprung zum substantivierten Verb gelang mit Robert Fischers Dissertation „Über das optische Formgefühl“ (1873).

Wie kommt der Ausdruck in die Dinge? In Beantwortung dieser Kardinalsfrage konstatiert er „ein unbewußtes Versetzen der eigenen Leibform und hiermit auch der Seele in die Objektform“ und fährt fort: „Hieraus ergab sich mir der Begriff, den ich Einfühlung nenne.“ Bei Theodor Lipps schließlich avanciert „Einfühlung“ zum Schlüsselbegriff einer psychologisch fundierten Ästhetik-Theorie. Quintessenz: Ästhetisches Erleben ergibt sich, wenn der Betrachter seine psychische Aktivität auf ein fokussiertes Objekt überträgt.

Interessanterweise erscheint 1875, zwei Jahre nachdem Robert Vischer seine Dissertation veröffentlicht hatte, mit Hermann Siebecks „Das Wesen der ästhetischen Anschauung“ eine Arbeit, die zu gänzlich anderen Ergebnissen kommt. Während die Einfühlungstheorie in der Aktivität des Subjekts und dessen „Selbstversetzung ins Objekt“ (Heinrich Wölflin) den Ausgangpunkt für ästhetisches Erleben sieht, drehen sich die Verhältnisse in der von Siebeck vertretenen Kontemplations-Theorie um: Die Aktivität – Schopenhauer spricht vom Entgegenkommen der Natur – liegt beim Objekt; der Betrachter, der sich vom Objekt „erfüllen läßt“, „zu seinem Spiegel wird“, bleibt passiv.  Nicht nur das letzte Zitatfragment legt nahe, von dieser Position aus eine Brücke zu den Spiegelneuronen, den  aktuellen Hätschelkindern der Neurobiologie und Neuropsychologie zu schlagen.

Nachdem 1992 das Team um Giacomo Rizzolatti im Prämotorischen Kortex von Makaken auf bestimmte Nervenzellen gestoßen war, die auch dann feuerten, wenn nicht der Proband selbst, sondern der Experimentator nach der vielzitierten Erdnuß griff und diese Entdeckung 1996 unter der Bezeichnung „Affen-Spiegel-Neuronen“ über zwei Artikel in die wissenschaftliche Welt entlassen hatte, gerieten „Nachahmerzellen“ relativ schnell in den Fokus wissenschaftlicher Aufmerksamkeit, was Rizzolatti später mit leichter Ironie kommentierte, denn bis dahin hatte sich die Neurophysiologie primär für „höhere“, d.h., für Kognition, Geist und Bewußtsein zuständige Neuronenfelder interessiert und jene Zentren, die „nur“ einfache Bewegungen auslösen, stark vernachlässigt.

Junger Makake

Neugeborener Makake imitiert Gesichtsausdrücke

Als später William Hutchinson die Spiegelneuronen auch bei Menschen nachweisen konnte (1999) und ihre Relevanz u.a. für Partnersuchende, Physio- und Psychotherapeuten, Pädagogen, Logopäden und Dentisten („Mit Spiegelneuronen gegen Zahnarztangst“) kaum noch in Zweifel steht, würde man – so die Vermutung – auf  ihre Etablierung in Bereichen der Kunst nicht allzu lange warten müssen, zumal das System der Spiegelzellen als Erklärungsmodell für Intuition anderen Vorstellungen – Enterisches Nervensystem („Bauchgefühl“), Damasios „Als-ob-Körperschleife“ – den Rang abzulaufen scheint. Was durchaus von Belang ist, da Intuition als das konstituierende Element künstlerischer Produktion und deren Rezeption gilt.

Vorerst allerdings gibt es nur wenige konkrete Hinweise: Daß Nachahmerzellen bei der Wahrnehmung von Tanzdarbietungen eine Rolle spielen, beim Zuschauer also die gleichen Hirnareale aktivieren wie beim Tänzer, ist nicht überraschend („Journal of Neuroscience“ Dezember 2006). Bewegt sich dagegen ein Roboter, unterbleibt die Nervenentladung. Was aber passiert angesichts einer bildhaften Darstellung? In einem Vortrag über „Neuronale Rezeption emotionaler Inhalte der darstellenden Kunst“ beschreibt Hans Hacker den Informationsfluß, der schlußendlich den hier zunächst interessierenden Effekt bewirkt: Die dem Ausdruck des Bildes eingeschriebenen Emotionen evozieren unmittelbar und unbewußt eine Erregung, die im Mandelkern (Sitz der Gefühle) aufgenommen wird. Während daneben die über mehrere Neuronenstationen laufende Umwandlung des von der Netzhaut erfaßten visuellen Reizes in eine Wahrnehmung erfolgt, geht zugleich ein Informationsstrom zum Scheitellappen, der dort – im diesbezüglichen Abstrakt sind die Spiegelneuronen ausdrücklich genannt – den Impuls zur Nachahmung der dargestellten Körperhaltung auslösen kann.

Inzwischen wurden interne Simulationen auch bei Wahrnehmungen registriert, wo es um innere Bewegung geht. Christian Keysers vom Neuro-Imaging Center in Groningen stieß auf neuronale Erregungen im Insularen Kortex, und zwar ebenfalls dann, wenn Testpersonen Gefühle wie Angst, Freude, Ekel in filmischer Darstellung beobachteten. Keysers vermutet Spiegelzellen auch in anderen Bereichen des Gehirns und geht davon aus, daß sie die gesamte Palette wahrzunehmender Empfindungen imitieren können. Vermutlich also nehmen Künstler – intensiver offenbar und umfassender als dies bei Erwachsen normalerweise der Fall ist – mit Hilfe der Spiegelneuronen das Grundbefinden eines Gegenübers sowie dessen aktuelle Gestimmtheit intuitiv wahr. Und sie erleben diese gefühlsunterlegte Erfahrung – hier durchaus Kindern vergleichbar – als einen  Erkenntnisakt von höchster Bedeutung. Nicht zufällig gehören Sätze wie „Als Kind ist jeder ein Künstler. Die Schwierigkeit liegt darin, als Erwachsener einer zu bleiben.“ (Pablo Picasso) oder „Kunst ist nichts anderes als der Versuch, die Intensität frühester Erfahrungen wiederzugewinnen.“ (Henry Moore) zum Zitatenfundus des 20. Jahrhunderts.

Zweifellos aber führt auch bei Künstlern nicht automatisch jeder optische Input zur Ausschüttung dopaminerger Neurotransmitter, d.h., zur Belohnung durch Lustempfindung, mit der die Evolution, so heißt es, „nützliche“ Aktivitäten ihrer Organismen auszeichnet. Anders gesagt: Nicht sämtliche Kontakte mit fremder Innerlichkeit ergeben zwangsläufig ein attraktives Sujet. Ob eine wahrgenommene Person zum Motiv wird, hängt ab von den   neuronalen Verschaltungsmustern, den inneren Bildern des betreffenden Künstlers und der Art und Weise, wie diese Person in Erscheinung tritt. An dem Punkt greift der für Künstler überaus wichtige V-Effekt: Während die eintreffenden Sinnesreize –  so die Vorstellung moderner Neurobiologen – im Kortex ein Wahrnehmungsbild entstehen lassen, wird in anderen Arealen der Hirnrinde, ausgehend von vorhandenen Einprägungen, ein Erwartungsbild aufgebaut. Keine Reaktion erfolgt, wenn beide Muster übereinstimmen oder total divergieren. Abweichungen dagegen evozieren neuronale Aktivitäten, die sich dem Wahrnehmenden via Gefühl vermitteln: Irritation verbunden mit leichter Erregung. Die minimale Abwandlung – an der Ampel: der knallrote Reflex auf dem Gesicht einer Frau  – bewirkt eine Verfremdung des Vertrauten, die zu gesteigerter Aufmerksamkeit führt. Das Wahrgenommene löst sich kurzfristig (zwei Sekunden später „kommt“ grün!) aus dem pragmatischen Kontext, gerät in die Perspektive des Ästhetischen und könnte, aufgeladen mit sinnlichem Sinn, eine bildnerische Klärung, d.h. Formulierung des Phänomens motivieren. 

Schwering Vorbeifahrlandschaft

Bernd Schwering, Vorbeifahrlandschaft "Morgen", 1974

Sollten Spiegelneuronen auch an Gefühlsaufwallungen vor Bergwiesen und Moorkuhlen  beteiligt sein? Oder kommen solche Empfindungen – und damit die Verdichtung einer Wahrnehmung zum Motiv – über neuronale Resonanzen anderer Nervenzellen zustande? Wie auch immer: Dem Landschafsmaler Bernd Schwering z.B. gibt sich, wie er im Apex-Interview Nr.1 mitteilt, ein Motiv so zu erkennen: „Dann plinkt´s oben!“  Die Zündung eines Neuronenblitzes ? Vermutlich ist das „Plinken“ hier auch dem erwähnten V-Effekt zuzuschreiben, denn Schwerings um die Zeit (1973) entstehende „Vorbeifahrlandschaften“, in denen, gänzlich unerwartet, Strommasten und Verkehrsschilder etc. im Vordergrund zu Schlieren verwischt erscheinen, Rübenmiete, Bäume und Büsche im Fond des Bildes dagegen relativ deutlich dargestellt sind, entsprechen geradezu idealtypisch der Abweichung vom etablierten Schema. Entfalten aber kann sich diese Situation nur auf der Basis einer spezifischen Subjekt-Objekt-Beziehung, aufgrund also eines bestimmten Einwirkungspotentials der Landschaft und der entsprechenden Disposition seitens des Empfängers.

Was die Wirkung der Dinge, der Außenwelt generell und die gegenwartsnahe Beschreibung seiner wesentlichen Komponenten betrifft, so findet sich bei dem englischen Lyriker Gerard Manley Hopkins (1844-1889) eine erstaunliche  – poetisch fundierte – Vorwegnahme. In seinen Tagebüchern stößt man auf die von ihm neugeprägten Termini „inscape“ und „instress“. Folgt man der Interpretation Wolfgang Clemens, dann bezeichnet „inscape“ den in der Gestalt ausgedrückten Wesenskern eines Dinges, während mit „instress“ die Fähigkeit des Objekts gemeint ist, über diese Gestalt auf das Subjekt einzuwirken. Jakob von Uexküll spricht in vergleichbarem Zusammenhang von „Wirkmalen“ und „Wirkzeichen“. In modifizierter Diktion sind beider Vorstellungen nach wie vor im Gespräch. So konstatierte Adolf Portmann als Quintessenz langjähriger Forschungsarbeit, die Natur bringe als primäre Qualität Ausdruck hervor. Der Biologe Andreas Weber vertritt  mit Verweis auf Aristoteles, für den die morphologische Form eines Lebewesens dessen anima war, die These, im Äußeren eines Organismus manifestiere sich seine innere Grundbefindlichkeit. Und  Hartmut Böhme konstatiert, daß Natur in den Dingen eine Sprache mit sich führe, wobei zur Ergänzung  Jaak Panksepp (er entdeckte, daß Ratten beim Spielen zirpen, d.h., lachen!) zu nennen wäre, der die Buchstaben dieser Sprache als eine Erscheinungsform der Materie sieht, die einen für Lebewesen sofort lesbaren emotionalen Wert vermitteln.

Die vorliegenden Befunde erlauben eine Vermutung: Wie Kleinkinder das einer bestimmten mimischen Geste zugrunde liegende Gefühl (der Mutter) intuitiv spüren, so könnte der Künstler (wie jeder andere auch) über die ästhetische Wahrnehmung der Formen einer Wald-, Feld-, Wiesenregion deren innere Befindlichkeit spiegeln bzw. unterschwellig aufnehmen: als Ingredienzien einer die Landschaft charakterisierenden Gesamtatmosphäre und verbunden u.U. mit dem Gefühl, leiblich spürbar (Hermann Schmitz) in diese Atmosphäre eingebettet zu sein. Hier zeigt sich noch einmal das eingangs zitierte „to be in synch with the things of the world“. Zugleich wird vorstellbar, daß sich dem Künstler im Erleben solcher intensiver Augenblicke einer hautnahen Subjekt-Objekt-Beziehung Landschaften als Motive geradezu anbieten.

Latent ist dieses Angebot in jeder Landschaft enthalten. Und tatsächlich landen früher oder später auch die 2 Hektar vertrockneter Stauden und Schuttpflanzen neben der Autobahnzufahrt in Skizzenblöcken oder Digitalkameras von Künstlern. Vorausgehen muß, was Franz Radziwill als „mystisches Naturerlebnis am Dangaster Deich“ bezeichnete, was Dieter Asmus „blitzartiges Zusammenschießen von innerer Vorstellung und äußerer Erscheinung“ genannt hat und  Heiner Altmeppen „das aktuelle Erlebnis der individuellen



Grundmuster oder Urbilder“. In den dabei wirksamen inneren Bildern (Verschaltungsmustern, Repräsentationen) sind offensichtlich Präferenzen gespeichert; nicht für bestimmte Naturdinge oder Artefakte, sondern für bestimmte Modi ihrer Erscheinung. So reagieren Künstler je nach Konditionierung  primär auf kräftige oder gedeckte Farben, auf grafische Elemente, prägnante Hell-Dunkel-Effekte, extreme Plastizität, Komplementär-Kontraste etc. oder eben auf die höchst animierende Ansammlung differenziertester Texturen, wie sie das erwähnte Unkraut-Areal offeriert.

Schwering Bauland

Bernd Schwering, Vorbeifahrlandschaft "Morgen", 1974

Wie entstehen diese inneren Bilder, wodurch erhalten sie ihre individuell-spezifische Strukturierung? In rudimentärer Form existieren sie ab ovo und ihr Ausbau, ihre Modifikation und Neugestaltung setzt bereits im pränatalen Stadium ein; zunächst evoziert durch Reize aus dem Mutterleib, später durch Informationen aus der Umwelt. Relativ sicher ist, daß sich die für ästhetische Wahrnehmung relevanten Muster zwischen dem 3. und 5. Lebensjahr konstituieren, im Verlauf der entscheidenden Phase organischer Gehirnreifung also, in der das neuronale System eine besondere Offenheit in Bezug auf Erweiterung und Variation bereits angelegter Erwartungsbilder erkennen läßt. Zum Prozeß des Zustandekommens der individuellen Matrix gibt es verständlicherweise keine wissenschaftlichen Reihenuntersuchungen, aber es gibt Künstleräußerungen über den Ort des Geschehens sowie die besonderen Umstände und atmosphärischen Gegebenheiten, wobei nie der Hinweis auf dabei auftretende sehr spezifische Gefühle fehlt. Unbeantwortet indessen, bislang jedenfalls, bleibt die Frage, weshalb diese frühkindlichen, die spätere Produktion eines Künstlers wesentlich mitbestimmenden Einprägungen – ob sie via einmaliges Ereignis oder schrittweise erfolgen – einer möglichen Fragmentierung oder Umstrukturierung entgehen. Gilt das beschriebene Procedere „Wahrnehmungsbild → Erwartungsbild → Abgleich → neues, erweitertes Erwartungsbild“ nur für pragmatisches Sehen (ich achte auf die Pfütze, damit ich keine nassen Füße bekomme!), bedingt auch für sinnliche Wahrnehmungen (der schillernde Ölfleck, die Spiegelung der Wolken auf der Wasseroberfläche!), keinesfalls aber für den exzeptionellen Moment ästhetischer Wahrnehmung, der dem Kind, begleitet von einer „Meta-Emotion“ unterschwellig aber einprägsam vermittelt, in welchem Erscheinungsmodus die Dinge der Welt speziell ihm den ultimativen Zugang, das Erlebnis ihrer Evidenz, ihrer Schönheit anbieten? Dieter Asmus: „Dieses Zentral-Erlebnis ist wie ein Haustürschlüssel: Wenn man an ihm rumändert, paßt er nicht mehr ins Schloß.“

Geht man von einem vergleichbaren persönlichen Ereignis wie der „ersten Liebe“ aus, dann erfolgt die Speicherung der neuronalen Korrelate von Vorgängen derartiger Qualität offenbar in Bereichen des Großhirns, wo sie von „alltäglichen“ Wahrnehmungsbildern kaum tangiert werden. Ob es sich um „Flashbulb Memories“ („Blitzlicht-Erinnerungen“), handelt – die momenthafte Modellierung der individuellen Matrix deckt sich, bezogen auf die charakteristischen Elemente, mit der landläufigen Definition des Begriffs – oder um die sukzessive Ausbildung des Musters, das sich über wiederholtes Erleben der betreffenden Wahrnehmungssituation schließlich als komplexes Reizschema dauerhaft einbrennt: in jedem Fall scheinen diese inneren Bilder ins autobiografische Gedächtnis zu geraten, jenen Teil des episodischen Langzeitgedächtnisses, in dem Erinnerungen an spektakuläre persönliche Ereignisse dauerhaft repräsentiert sind. Ins Auge fällt, daß sie sich auch dann in allen Facetten vergegenwärtigen, wenn nur bestimmte Elemente des entsprechen Musters – durch einen visuellen oder gustatorischen Reiz etwa – berührt werden (Prousts Madeleines). Der nächtliche Parkplatz und die im Licht der Mastleuchen aufscheinenden Lastwagen beispielsweise, von Altmeppen wahrgenommen Mitte der 70er Jahre, laden sich über die Aktivierung des Urmusters mit den konnotierten Emotionen auf, werden zum Motiv "Heiligengeistfeld", obwohl von der ursprünglichen Situation (Junigarten im Morgenlicht vor dunkler Hauswand), die der Künstler als Kind erlebte, nur zwei Komponenten im Spiel sind.

Altmeppen Heiligengeistfeld

Heiner Altmeppen, "Heiligengeistfeld", 1977

Expressis verbis ist dieser Sachverhalt bislang nicht formuliert, aber aus neurologischer Sicht wären solche Bewußtseinsvorgänge wie das ästhetische Erleben, in denen Landschaften, bestimmte Ding- oder Figurenkonstellationen etc. zum Motiv werden, wohl den „Metarepräsentationen“ zuzuordnen, d.h., Verschaltungsmustern höherer Ordnung, durch die das Gehirn seine aktuelle Befindlichkeit abbildet. Nach Antonio Damasio geht es bei der Produktion dieserart Vorstellungen um Fabrikationen des von ihm sogenannten „Drittkraft-Komplexes“, konkreter, um Darstellung von Reaktionen auf Reaktionen; auf Veränderungen von Mustern also, die durch neu ins Blickfeld geratene Objekte ausgelöst werden.  Metarepräsentationen lassen sich nicht lokalisieren, sondern existieren als nichtlokale dynamische Gebilde, die Areal übergreifend als synchrone Zustände von Millionen verteilter Nervenzellen in Erscheinung treten (Wolf Singer). Von entscheidender Bedeutung für die Synchronisation sind  – dem Modell des Bremer Neurobiologen Hans Flohr zufolge – die sog. NMDA-Synapsen der Hirnrinde. Sie ermöglichen die Kreation komplex strukturierter neuronaler „Assemblies“, die Zustände ästhetischer Begeisterung spürbar machen.

Koch Landschaft seiner Kindheit

Fritz Koch, Landschaft seiner Kindheit (Foto)

Worauf aber bezieht sich diese Begeisterung? Was ist die Essenz jener wortlosen Botschaften, die den Künstler veranlassen, ihre Evidenz via Kunstwerk zu „beweisen“? Im Werk des englischen Schriftstellers W.H. Hudson – er verlebte seine Kindheit in den Pampas Argentiniens – ist von solchen Momenten mehrfach die Rede und das folgende  Erinnerungsbild, erstmals 1931 veröffentlicht, deutet an, worum es dabei geht: „Im Januar im rostbraunen Gras auf dem Rücken liegen und hochstarren an den weiten, heißen, weißblauen Himmel, der von Millionen und Myriaden schimmernder, immer und ewig vorbeitreibender Kugeln von Distelwolle bevölkert ist; starren und starren, bis sie für mich lebende Wesen sind und ich, in einer Verzückung, mit ihnen bin, treibend in dieser gewaltigen leuchtenden Leere!"

Von einem vergleichbaren Moment berichtet der Zeichner (und Maler) Fritz Koch. Hier löste ein zwischen Aller und Acker liegender flacher, sumpfiger Tümpel – sein bevorzugter „Spielplatz“ –  einen bis heute nachwirkenden Impuls aus. Er sucht ähnlich geartete Habitate auf, nimmt Maisstauden, Boviste, Tierkadaver ins Atelier, um zeichnend den Moment zu ermitteln, in dem die von ihm erwartete Resonanz, das Gefühl nämlich einer „tief empfundenen Übereinstimmung“, spürbar wird. Koch spricht in dem Zusammenhang von  glücklichen Augenblicken der Kongruenz, die sich einstellen, wenn im Zuge der Arbeit erste Details seiner minutiös gezeichneten Imaginationen „flächendeckender Urzustände“ Gestalt annehmen.

Koch Keimende Kartoffeln

Fritz Koch, "Keimende Kartoffeln", 1991

Erwartungsgemäß knüpft ein Resümee bei den Bemerkungen zur Kogenese und Koevolution an: Charakteristisch für Ereignisse dieser Kategorie scheint zu sein, daß der Betrachter im höchsten Maße bei sich und zugleich außer sich ist. Seine Aufmerksamkeit gilt sowohl der Epiphanie der Dinge als auch den endogenen Bildern. Ästhetische Euphorie – erlebt  als innere Turbulenz oder elementare Beruhigung – stellt sich in dem Moment ein, wo beide Ebenen paßgenau in Deckung sind. Es wird bewußt und als unbezweifelbar erlebt, daß etwas (von Bedeutung) außerhalb der eigenen Person existiert, wofür es in dieser Person eine Entsprechung, eine Matrix gibt: Ein zeitlich begrenzter, offenbar höchst befriedigender Zustand, der als eine die gesamte Person durchdringende Erfahrung jener von Tieck angesprochenen Verwandtschaft zu spüren ist – beglaubigt durch Zuteilung der genannten  Neurotransmitter.

Der Psychologe und Philosoph Müller-Freienfels konstatierte bereits 1912, daß solche „Gewißheitsmomente“ jedem Kind, auch noch dem Erwachsenen widerfahren könnten, aber – da sie verdrängt würden oder die „Vorbereitung zur Ausnützung“ fehle – selten eine künstlerische Tätigkeit in Gang setzten. Dabei ist es bis heute geblieben: Wie sollten auch jene „augenblickslangen Zustände einer unbeschreiblichen inneren Erhebung und Begeisterung“, von Unbeteiligten eher als Abständigkeit klassifiziert, zu etwas Vernünftigem führen, zumal dem Kandidaten in der aktuellen Situation weder eine goldene Nase wächst noch der Heilige Lucas leibhaftig neben ihn tritt? Auch das Ambiente – visuelle Sensationen herkömmlicher Art sind kaum im Spiel – gibt dem Außenstehenden keinerlei Anhaltspunkte, wird übersehen oder als banal registriert! Aber genau diese Diskrepanz zwischen einer bestenfalls indifferenten Haltung des Umfeldes und der subjektiven Hochschätzung jener „Banalitäten“ hinterläßt, das wird von Künstlern häufig betont, einen Stachel, dessen unterschwellige Wirkung schließlich doch die „Vorbereitung zur Ausnützung“, d.h., erste Versuche, sich der Dinge (der Welt) zeichnend zu vergewissern, anstoßen, den Start zu einer künstlerischen Tätigkeit initiieren kann.

Irgendwann schließlich, zu Beginn der Professionalisierung, kommt das o.a. „aktuelle Erlebnis der individuellen Grundmuster oder Urbilder“ zustande: Die von Dürer sogenannte „inwendige Figur“ wird bewußt und zum Bezugspunkt für die weitere künstlerische Entwicklung. Dabei geht es zuallererst um die Klärung der Formfrage, die laut Kandinsky jeder nicht nachempfindende Künstler individuell bewerkstelligen muß. Der 20-, 22-jährige Kunststudent, der zwar genau weiß, was er nicht will, darüber hinaus jedoch nur vage Vorstellungen zur Form seines zukünftiges Bildes hat, nimmt zunächst – so könnte sich die Geschichte fortsetzen – die aktuellen, am Markt befindlichen Installationen, Maler- und Bildhauereien etc. in Augenschein, unterzieht sie gewissermaßen einem Resonanz-Test, um so einen Anknüpfungspunkt zu finden. Von Künstlern, zu denen eine gewisse Affinität besteht, übernimmt er bestimmte Formelemente, modifiziert und ergänzt sie in fortwährendem Kontakt zu seinem inneren Bild, bis endlich Arbeiten mit wachsendem Eigenanteil entstehen und sichtbar wird, was man üblicherweise als „persönlichen Stil“ oder „individuellen Ausdruck“ bezeichnet.

Damit liegt sie vor, die als Landschaft, Stilleben oder Porträt präsentierte Mitteilung über einen intensiven Augenblick sinnlicher Wahrnehmung: Manifestation einer das alltäglich-pragmatische Wiedererkennen hinter sich lassenden Sicht der Dinge und zugleich Offerte an potentielle Rezipienten, via Betrachtung in ein Kunsterlebnis einzusteigen. Daß es nicht zwangsläufig vor jedem Kunstwerk passiert oder oft nur als kurzer, sich schnell verflüchtigender Anhauch registriert wird, hängt u.a. mit den individuell unterschiedlichen Einprägungen im biographischen bzw. emotionalen Gedächtnis zusammen. Daß es prinzipiell möglich ist, angesichts eines Bildes, einer Zeichnung oder Plastik für Momente mit den Dingen der Welt in Einklang zu geraten, wird verständlicher, wenn man Tiecks Gedanken zur verwandtschaftlichen Beziehung zwischen Pflanze und Mensch um neuere Einsichten erweitert:

Natur und Kultur gehören derselben Semiosphäre an. In beiden Bereichen erfolgt der Informationsaustausch auf identische Weise, und zwar per Symbol, genauer, per präsentatives Symbol. So wie ein bestimmter Erregungszustand von Nervenzellen dem Bewußtsein nicht als deckungsgleiche Abbildung serviert, sondern symbolisiert, also übersetzt in Gefühl, mitgeteilt wird; wie auch die Katze auf Aggression reagiert, indem sie ein Symbol „gestaltet“, nämlich den „Buckel“ – und dergestalt ihre Anspannung eindringlich signalisiert, so transponiert der Maler die durch ästhetische Wahrnehmung ausgelöste Empfindung in ein aus Farbe geformtes Symbol. Es evoziert beim Betrachter, als habe er das Motiv realiter vor Augen, eine Emotion. Das Symbol wirkt wie reales Eingreifen; zwischen kulturellen Zeichen und materiellen Reizen besteht hinsichtlich der Wirkung – so Andreas Weber – kein Unterschied.

Im Prinzip ist das richtig! Damit aber ein artifizielles Zeichen tatsächlich die Kraft und Präzision eines organischen Ausdrucks erreicht, sollte der betreffende Künstler Form als entscheidenden Wirkungsfaktor (am besten) intuitiv erfaßt oder (wenigstens) begriffen und habitualisiert haben. Natürlich, irgendeinen Effekt erzielt jedes Bild, auch wenn es nur in einer Art Pseudo-Impressionismus die optische Erscheinung reproduziert. Ein Kunsterlebnis indessen wird nur bei bewußt gesetzter Form eintreten, und die wirkt in dem Maße, wie es dem betreffenden Maler gelingt, die durch das Motiv ausgelösten Emotionen umzusetzen.

Buckelnde Katze

Buckelnde Katze

Wenn eine Katze buckelt, dann präsentiert sie das Resultat einer Reizung, ihre Anspannung nämlich, umgesetzt in symbolische Form. Das geschieht unmittelbar, von innen nach außen, wobei ihr Organismus, dem die Störung widerfährt, zugleich als Medium ihrer Performance fungiert.

Müller-Franken, Piazza Manzini

Johannes Müller Franken, "Piazza Manzini", 2003

 Wenn ein Künstler von der einer Menschengruppe „anhängenden“ Schönheit erfaßt wird (Jugendliche im Zwielicht eines Sommerabends auf einer italienischen Piazza) und diese Ergriffenheit (Symptom einer Neu- oder Wiederempfindung des Zustands der Kongruenz!) als Gemälde fixieren will, muß auch er, um aus Farben – toter Materie – die gewünschte deutliche Resonanz erzeugende Form zu bilden, von innen nach außen arbeiten. D.h., sein Hand-Auge-Apparat materialisiert die Form bis zum letzten Pinselstrich in permanentem Abgleich mit dem inneren Bild, was eine erhebliche Anstrengung insofern erfordert, als dieses innere Bild – bei gleichzeitiger Konzentration auf den Malvorgang –  präsent bleiben muß. Nur so kann der präzise Ausdruck eines präzisen Gefühls entstehen,  wobei – das läßt sich bei Picasso studieren – die dem Augenschein verpflichtete Ähnlichkeit durchaus zu vernachlässigen ist.

Zurück zum Ausgangspunkt: Zweifellos hängt die phantomhafte, kaum wirklich anwesende, nicht gänzlich abwesende Existenz des Kunsterlebnisses im aktuellen Betrieb mit der Erweiterung des Kunstbegriffs zusammen. Durch die permanent fortschreitende Diskursivierung der Kunst – ein Indiz: das Anhimmeln der zum Axiom hochstilisierten „Referenz“ – kommt es zur stillschweigenden Suspendierung der Form als dem konstituierenden Faktor der Kunst. Wo „Form“ nur noch als sozio-kulturelles Phänomen („Migration der Form“ war ein Themenschwerpunkt der  dokumenta 12) registriert, aber nicht mehr das Erlebnis seiner Wirkung angepeilt wird, geht das Gespür für deren basale Bedeutung und damit auch für das Rezeptionsmodell „Kunsterlebnis“ verloren. Was da verlorenginge, erlangte volle Reputation zwar im 19. Jahrhundert, hat sich dabei als Fixpunkt bürgerlich-elitären Umgangs mit Kunst etabliert und zu einer Sache mit Kultstatus entwickelt, ist aber natürlich, sofern man es in diesem Kontext beläßt, absolut unterbewertet.

Wie anders als durch ästhetisches Erleben sollte jenes „to bee in synch...“ spürbar werden? Was sonst als Kunst könnte diesbezügliche Erfahrungen in Ausdruck umsetzen? Und ebenso scheint es kein Äquivalent für die per Kunsterlebnis rekonstruierbare Empfíndung der Identität zu geben. 

Im Spiegel neuerer humanwissenschaftlicher Erkenntnisse zeigt sich zudem, daß dieser Bereich menschlicher Kognition in elementarer Weise mit den existenzsichernden Grundvorgängen in Fauna und Flora verflochten bzw. als deren kulturelle Entsprechung zu sehen ist: möglicher Ausgangspunkt für eine neue Avantgarde?

Literatur:

Joachim Küpper/Christoph Menke (Hrsg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung. Frankfurt: Suhrkamp 2003.

Thomas Friedrich/Jörg H. Gleiter (Hrsg.), Einfühlung und phänomenologische Reduktion. Münster, 2007

 Klaus Herding/Antje Krause-Wahl (Hrsg.), Wie sich Gefühle Ausdruck verschaffen. Taunusstein: Driesen 2007

 Gerald Manley Hopkins, Gedichte, Englisch/Deutsch, Nachwort von Wolfgang Clemen, Stuttgart, 1973

Gerald Hüther, Die Macht der inneren Bilder, Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern, Göttingen, 2004

 

MERKUR; Deutsche Zeitschrift fütr europäisches Denken, 2009, Heft 6 (leicht gekürzt)


     
HOME