ARMIN SCHREIBER |
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Richard Oelze: Kollabiertes Gen-Tech-Labor | ||
"Erwartung", 1935/36 Mit 500 Reichsmark, für die er im März 1933 eine
Zeichnung an Philipp Reemtsma verkauft hat, nimmt Richard Oelze den laut
Biographie-Legende letzten Zug über die noch offene Grenze nach
Frankreich und erreicht am 1. April Paris. Dort lebt er – Willi
Baumeister hatte ihn ausdrücklich davor gewarnt, „mit so wenig
loszufahren“ – von Baguetteresten, die er in Lokalen sammelt, im Schrank
verwahrt und bei Bedarf in Wasser aufweicht; experimentiert zudem, wie
andere in Paris lebende Künstler, mit Drogen und muß – schwarzer Anzug,
weißes Hemd, grauer Teint – oft gespenstisch gewirkt haben: wie ein
„Sargträger“ (André Breton), der den Surrealismus auch als Person
überzeugend repräsentierte. Gespenstisch sind auch seine Bilder. Der Maler
Fritz Koch (Jahrgang 1951): „Eine Hausstaublandschaft unterm
Elektronenmikroskop.“ Wer ist dieser Oelze? In Stichworten: Am 29. Juni 1900 in Magdeburg
geboren, Arbeiter- bzw. Handwerkermilieu, „sehr gut“ im
Zeichenunterricht der Bürgerschule, Lehre an der lithographischen
Anstalt, Abendkurse in Aktzeichnen, Gesellenprüfung, Besuch einer
sogenannten Rumpfakademie, der Kunstgewerbeschule: Bis dahin – abgesehen
von einem kurzen Intermezzo als Geldfälscher unmittelbar nach dem Krieg
in Berlin – die damals übliche Karriere für zeichnerisch Begabte aus
einfachen Verhältnissen. Meist endet sie in der Entwurfsabteilung einer
Firma für Kartonagen oder Tapeten. Nicht so bei Oelze: Mit 21 erhält er Stipendium und
Ausbildung am Weimarer Bauhaus bei Paul Klee, Oskar Schlemmer und
Johannes Itten, der vielen Studieren – wie Beuys 50 Jahre später in
Düsseldorf – als eine Art Guru gilt und dessen Vorkurs bereits
Grundelemente des Surrealismus antizipiert. Während der sogenannten
Dresdner Jahre (1926-29) zeichnet und malt er; und: beschäftigt sich
intensiv mit Fotografie, wobei Otto Dix, mehr noch der wegen seines
„perfiden Naturalismus“ allgemein diskreditierte, von ihm jedoch
bewunderte Richard Müller, spürbaren Einfluß ausübten. Zwischendurch reist er in die Hochburgen
künstlerischer Aktivität der Weimarer Republik –Hamburg, Leipzig, Köln,
Düsseldorf – und pilgert dann (andere Bauhäusler, die Frauen in
alternativen „Reformkleidern“, sind schon da) nach Ascona, in
das Künstlerparadies der 20er
Jahre. In der fremden Umgebung verflüchtigen sich die neusachlichen
Bildvorstellungen der Dresdner Zeit und es entstehen atmosphärisch
dichte Zeichnungen südlicher Bergregionen: Die vegetativen Kleinformen
scheinen darauf zu brennen, in andere, fremde Bildwelten zu wechseln. 1930, zurück in Berlin, sieht er hinter
Schaufensterscheiben die Reproduktion eines surrealistischen Gemäldes,
was ihn – so seine spätere Lebensgefährtin Ellida Schargo von Alten –
stark beeindruckte, quasi „erleuchtete“. Der Sprung in den Surrealismus
steht unmittelbar bevor. Zeichnungen schließlich aus dem Jahr 1931 wie
„Phantastische Komposition“ oder „Grotte“ signalisieren: Oelze ist
gelandet!
In Paris ergeben sich schnell Kontakte u.a. zu Max
Ernst, Yves Tanguy und Savador Dalí, dessen extravagante Frau Gala den
pseudo-scheuen Oelze anläßlich seiner Ausstellungsbeteiligung beim
„Salon des Surindépendants“ auf besondere Weise belobigt: „…die kam auf
mich zu und gab mir ´nen Kuß, das war für die ganzen Surrealisten
bestimmend … und ein ganz großer Erfolg.“ Mit der Arbeit „Erwartung“,
die zur „Inkunabel des 20. Jahrhunderts“ und echten Herausforderung für
Exegeten wurde und Bildern wie „Fernen (eine Landschaft)“, deren
anthropomorphe Büsche und
Bäume den Betrachter aus Tausend Gesichtern in den Blick nehmen und in
ihrer bedrohlichen Seelenhaftigkeit eine gestaltgewordene Gegenrealität
suggerieren, kommt erstmals das Spezifische seines Werks unverwechselbar
zum Ausdruck und er selbst zu erster, bald auch internationaler
Anerkennung. So sind Oelzes Arbeiten 1936 u.a. in London („International
Surrealist Exibition“) und New York („Fantasie Art, Dada, Surrealismus“)
zu sehen. Alfred H. Barr jr., Organisator jener „biggest surrealist show
on earth“ im New Yorker Museum of Modern Art später: „ Wochenlang waren
wir in surrealistische Kunst vertieft, doch wir sahen nichts, das
annähernd zu beunruhigend war wie Oelzes Bilder“. Den Krieg überlebt er
– 1940 einberufen – als Kartenzeichner. „What about Oelze?“ Anfragen aus dem Ausland
führen, nachdem er von 1945 bis Ende der 50er Jahre unerkannt und ohne
Resonanz in Worpswede zugebracht hat, zu seiner Wiederentdeckung. Durch
die Teilnahme an der Documenta II (1959) und darauf folgende
Ausstellungen, die auch Teile des Frühwerks einbeziehen, etabliert er
sich im Bewußtsein der kunstinteressierten Öffentlichkeit als einer der
großen europäischen Surrealisten. Populär wie Dalí oder Max Ernst
allerdings wird Richard Oelze nicht, zumal er weiterhin (ab 1962) in
Posteholz bei Bremen) zurückgezogen lebt: bis zu seinem Tod 1980.
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So reichte offensichtlich Oelzes
kunsthistorische Aura nicht, aus Anlaß seines 100. Geburtstags
eine große Schau an großem Ort mit entsprechender Medienresonanz
zu evozieren. Dafür gab es Mitte des Jahres in Hamburg, in der Galerie
Brockstedt und der Kunsthalle, zwei kleinere erstaunlich kompakte
Ausstellungen, mehrfach als kontemplatives Highlight bezeichnet
angesichts einer vom „vielschichtig“ gemalten Bild eher wegdriftenden
Ausstellungspraxis. Und es gibt – Schlußakkord und sicherlich dann doch
auch für Oelze-Fans ein zufriedenstellender Höhepunkt des Jubiläums –
eine Ausstellung in der Bremer Kunsthalle, die anschließend im Museum
der Bildenden Künste Leipzig gezeigt wird: über 100 Exponate des
Jubilars, erweitert um einige Arbeiten u.a. von Ernst, Dalí,Tanguy, Dix
und Richard Müller (Spitzname: Mäuse-Müller). Die Ausstellung ist als
„begehbarer Essay“ konzipiert und bei aller Skepsis gegenüber dieser,
z.Zt. modischen Präsentationsform: hier ist sie sinnvoll, zumal die
Kuratorin ihr Vorhaben diskret umsetzt in einer Weise, die den Bildern
hilft und sie nicht degradiert zu Trittsteinen eines Beweisganges.
Zu einer interessanten Verdichtung kommt es im
„Kapitel“ über Oelzes Selbstbildnisse. In der Regel sind solche Porträts
im
Œuvre eines Künstlers integrierter Bestandteil seiner Kunst-Welt wie
Steine, Bäume oder andere Personen auch. Bei Ivan Albright z.B.,
amerikanischer Maler, Zeitgenosse Oelzes und Surrealist im weiteren
Sinne des Wortes, zerfallen Holztür, Möbel, Fische, „Dorian Gray“ und
die Körperlandschaften der eigenen Person unter formal gleichen
Bedingungen. Bei Oelze bleiben die Selbstbildnisse im Zustand der „Neuen
Sachlichkeit“, während Naturdinge und Artefakte über
plastisch-vegetative Formen die Bildwelt des Surrealismus konstituieren:
verbunden einzig durch „stechende Augen“, mit denen sowohl „Oelze“ als
auch die anthropomorphen Landschaftsphänomene
seines „Naturtheaters“ den Betrachter fixieren. Erst mit „Ichmirnoff“
(1967/69), dem Quasi-Selbstporträt in romantischem Outfit und ersten
Bild einer virtuellen Ahnengalerie, fügt er sich vorsichtig ein in die
von ihm visualisierte phantastische Innenwelt.
In der Gegenüberstellung seiner Arbeiten mit Werken von Dalí, Tanguy,
Ernst etc. tritt die – man könnte sagen: deutsch-romantische Dimension
als eine besondere Spielart des Surrealismus greifbar zutage. Keine
Modifikationen also jener vielzitierten „Begegnung eines Regenschirms
mit einer Nähmaschine auf einem Seziertisch“, wie sie Dalí, gestützt auf
seine von Freud inspirierte „paranoische Methode“, in Szene setzt, und
die dabei oft zum begriffsträchtigen Porno-Rebus mutieren. Sondern – in
dem grandiosen Gemälde „An einer Kirche“ (1954) z.B. – Zwitter zwischen
hypertrophen Mikroorganismen und hocherregten Kobolden in Ruinen bei
Mondschein: eine vertraut unheimliche Gespensterwelt; ein kollabiertes
Gen-Tech-Labor.
Die Affinität zu Max Ernst indessen ist unübersehbar. Nicht zu den
dadaistischen Arbeiten und den Collagen etwa aus „La Femme 100 Têtes“.
Wohl aber zu den großen Landschaften der 30er und 40er Jahre („Lust am
Leben“, „Totem und Tabu“), in denen Fauna und Flora zu phantastischen
Konglomerationen verschmelzen. Ähnlich in Details, aber doch weit
entfernt von Oelzes Worpsweder Waldstücken, erinnern sie an wuchernde
Vegetationen exotischer Gewächshäuser.
„Ich bin Surrealist“, gibt Oelze 1968 zu Papier. Angesichts seiner
Arbeiten kann man ergänzen: und zugleich Romantiker. Mit Blick auf Achim
von Arnims „Contes bizarres“, in denen erstmals „écriture automatique“
riskiert wurde, verweist bereits André Breton, Wortführer der Pariser
Surrealisten, auf Beziehungen zwischen beiden Systemen. Daß die
Verbindung hier über Caspar David Friedrich bis hin zum „romantischen
Seitenzweig“ der deutschen Renaissance
(„Hommage à Altdorfer“, 1955) zu Bosch und Hans Baldung Grien
weiterreicht, stellt das Werk Oelzes (wie den Surrealismus generell) in
einen größeren und interessanten kunsthistorischen Zusammenhang. Wenn
Carl Einstein („Die Kunst des 20.Jahrhunderts“, 1926) im Surrealismus
eine „Gegenströmung oder Abwehr gegen die technische Zivilisation
sieht, eine Reaktion auf den „Rationalismus des Bürgertums“, der eine
Vielzahl von grundlegenbden Erfahrungsmöglichkeiten ausschließt, dann
beschreibt er genau das, was
unter anderen historischen, aber der Struktur nach gleichen Bedingungen
schon H. B. Griens Hexen im frühen 16. Jahrhundert via Körpersprache
artikulierten.
Im frühen 21. Jahrhundert obliegt die Apologie es Phantastischen u.a.
Oelzes „Chimären“, „Todpuppen“, „Gestörten“ und „Gehörnten“. Und
spätestens seit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms haben sie –
Vorfreude auf potentiellen Zuwachs? – etwas Heimtückisches im Blick.
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