ARMIN SCHREIBER
KUNST-PATERNOSTER
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Stanley Spencer: Dorftrottel und Großmeister
     

High Street in Coockham

High Street in Coockham (Foto: 2008)

11 Jahre lang, seit 1925, war Stanley Spencer, jener Künstler, der fast jedes menschliche Geschehen, Arbeit, Krieg, Liebe, Festivität in die machtvolle Beleuchtung der Kindheit tauchen konnte, mit der Malerin Hilda Carline verehelicht. Dann verliebte er sich rest- und heillos in Patricia Preece, eine extravagante Blondine und heirate sie schließlich, Mai ´37, nachdem er Ihr monatelang mit Schmuck, Dessous und elegantem Schuhwerk aufgewartet und dann auch noch sein gesamtes Anwesen überschrieben hatte.

Spencer im Gerspräch mit Patricia Preeze

Rechts: Stanley im Gespräch mit Patricia Preece und Dorothy Hepworth, 1929

Die Entscheidung verdient einen Ehrenplatz in der Geschichte der Mißgriffe. Relativ schnell nämlich stellte sich heraus: Sie konnten zusammen nicht kommen, denn Miss Preece war viel zu lesbisch. Bereits auf der „Hochzeitsreise“ nach St. Ives in Cornwall begleitete sie die Malerin Dorothy Hepworth und kurz darauf wurde Spencer ein für allemal seines einstigen Hauses verwiesen, was ihm, den ein Kritiker später "England's greatest 20th-century painter" nennen sollte, den Titel „Dorftrottel“ eintrug, dafür aber am Broadway zu Meriten verhalf: Er wurde zum Helden des feministischen Theaterstücks „Stanley“, das 1996 in New York über die Bühne ging.


"Double Nude Portrait: The Artist and his Wife", 1937
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Bemerkenswert ist diese Love-Story, weil Patricia Preece den Maler auch künstlerisch aus  dem Konzept brachte. Kurzfristig nur, aber mit ärgerlichen Folgen. Die zwischen 1935 und 1937 entstandenen Aktdarstellungen, von denen „Double Nude Portrait: The Artist and his Second Wife“ wegen der symbolträchtigen ungekochten Hammelkeule neben der Matratze meist an erster Stelle genannt wird, haben zwar so illustren Kunstkennern wie dem einstigen Starkritiker der „New York Times“ Hilton Kramer oder der englischen Ordensschwester und Kunsthistorikerin „Sister Wendy“ (sie lobte vor allem „das schöne und flauschige Schamhaar“!) schwer imponiert, erreichen aber nicht die Originalität und Güteklasse der „Cookham-Bilder“. Dennoch werden sie – wen wundert´s bei einer solchen Geschichte im Hintergrund – überproportional häufig abgebildet und kommentiert, so daß Spencers exorbitantes Hauptwerk, seine aus eigenwillig-ambivalenten Gemälden gefügte Hommage an seinen Geburts- und Wohnort, oft erst über Umwege ins Blickfeld gerät.

In Cookham, Ende des 19. Jahrhunderts eine Kleinstadt von knapp 4000 Einwohnern, 50 km westlich von London gelegen und heute mit dem Zug von Paddington Station aus in einer Stunde zu erreichen, wurde Stanley Spencer am 30. Juni 1891 geboren. Sein Vater, Klavierlehrer, Organist und Patriarch spätviktorianischer Prägung, mißtraute der seinerzeit einsetzenden Modernisierung des öffentlichen Bildungswesens und ließ den Heranwachsenden von der älteren Schwester Annie – als Schule diente eine Gartenbude – unterrichten, sorgte jedoch für die religiöse Unterweisung selbst. Laut las er aus der Bibel vor, und zwar, wie Spencer später bemerkte, „mit solcher Eindringlichkeit, daß er sie wirklich machte wie Cookham selbst, und tatsächlich schien es so, als ob die Erzählung der Bibel sich in unseren eigenen vertrauten Gassen abspielte.“


Predigt in Coockham: "Saint Francis and the Birds", 1935

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Ein guter Schüler war Stanley nicht; seine „Lehrerin“ ließ ihn tun, was er vor allem wollte: zeichnen und abzeichnen, wobei die Kopien der Präraffaeliten Rossetti und Millais, die damals auch bei Spencers an den Wohnzimmerwänden hingen, erste Anregungen gaben. Hoffmanns „Struwwelpeter“ stand in der Familien-Bibliothek, besonders aber faszinierte ihn Arthur Rackham, dessen illustrierte Märchenbücher noch heute verlegt werden: Als Kind wünschte er sich, zeichnen zu können wie er.

Wunsch Nummer zwei, unter allen Umständen draußen zu sein, teilte er mit seinem jüngeren Bruder Gilbert, dessen Buch (Stanley Spencer, by his brother Gilbert, 1961) über deren Streifzüge Auskunft gibt. Friedhof, Themse-Ufer, Brücke und Bootsanleger, Cookham Moor und die Feuchtwiesen der Umgebung waren die Besitztümer ihrer Kindheit.

Es ist diese Kombination von kleinstädtischer Urbanität und ländlichen Gegebenheiten, aufgeladen mit Bildern und Geschichten aus dem häuslichen Fundus, die Cookham für den jungen „Stan“ zu einem Ort werden läßt, in dem er erreicht, was im Englischen mit der Formulierung „to be in synch with the things of the world“ unpathetisch aber treffend charakterisiert ist: gefühlsintensive Momente ästhetischer Wahrnehmung, die dem Kind vermitteln, in welchem Erscheinungsmodus ihm die Dinge der Welt das Erlebnis ihrer Evidenz anbieten. Natürlich wird dieser Vorgang nicht reflektiert, aber er führt zur Ausformung einer individuellen Matrix, eines komplexen Reizschemas, das sich im autobiografischen Gedächtnis dauerhaft einprägt: An der renommierten Londoner Slade School of Art, die er ab 1908 vier Jahre lang besuchte (morgens, 8:50 hin; abends,17:08 zurück), firmierte er wegen seiner endlosen Elogen auf  C. unter dem Spitznamen „Cookham“.

Slade School of Art

Slade School of Art, 1905

Bereits als 21-jähriger spricht er von Cookham als einem „Vorort des Himmels“ und es ist interessant zu sehen, wie er dieser Empfindung nachgeht: Zunächst bezugnehmend auf die damals sogenannten Primitiven wie Giotto, Masaccio, Fra Angelico, dann mit Blick auf Paul Gauguin und Henri Rousseau und deren Suche nach dem verlorenen Paradies. Seine formalen Lösungen bringen ihn zwar in die vorderen Reihen der Avantgarde (1919 stellt er zusammen mit Picasso, Modigliani und Cézanne aus), aber nur punktuell in die Nähe seiner spezifischen, die späteren Arbeiten prägenden Bildmittelmixtur.

Künstlerisch relevant werden die Cookham betreffenden inneren Bilder erst in den 20er Jahren. In Burghclere bei Newbury hatten Louis Behrend und seine Frau Mary, deren Bruder Henry W. Sandham im 1.Weltkrieg in Mazedonien schwer erkrankte und 1919 gestorben war, die „Sandham Memorial Chapel“ errichten lassen und Spencer mit der Ausgestaltung (1923-1932) betraut. Im Zuge der Vorarbeiten passiert offenbar, was der Maler Dieter Asmus „blitzartiges Zusammenschießen von innerer Vorstellung und äußerer Erscheinung“ nennt. Ausgelöst wird dieser Kurzschluß in der Regel durch visuelle Reize, die auch dann wirken, wenn nur bestimmte Elemente der individuellen Matrix berührt werden. Die neuronale Resonanz erlebt der Betreffende als ästhetische Euphorie: Es wiederholt sich, kurz gesagt, das ewähnte Kindheitserlebnis, jener - so der Maler Fritz Koch -                                       

 


Feuchtwiesen in der Umgebung (Foto:2007)

„glückliche Augenblick der Kongruenz“, jetzt aber bewußt registriert, wobei auch die formalen Konsequenzen deutlich zutage treten. Der Künstler verfügt nun über ein Paradigma, ein Muster, auf das er willkürlich zurückgreifen kann.

In eine entsprechende Situation gerät Spencer 1917. Im August meldet er sich – zuvor bei der Feld-Ambulanz in Mazedonien im Einsatz  – freiwillig als Sanitäter zu den „Royal Berkshires“, einer kämpfenden Einheit, die den Namen seiner Heimatregion trägt. Unter diesen lebensgefährlichen, ihn traumatisierenden Umständen schreibt er an seine Schwester Florence den verblüffenden Satz: „It is very nice to be with the Berkshire boys.“

Paradox: Inmitten des täglich erlebten Schreckens bildet sich jenes „to be in synch with ...“, eine mentale Insel, deren intensive visuelle Einprägungen er in Burghclere konkretisiert. 


 Sandham Chapel
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Sandham Chapel, Innenraum
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"Map-reading" (Detail), 1932
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"Tea in the Hospital" (Detail), 1932
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Auf großformatigen, in die Architektur desRaumes eingepaßten Leinwänden erzählt Spencer vom Leben der Soldaten und – in einem die gesamte Ostwand des Gebäudes füllenden Gemälde – von ihrer Auferstehung, die auch den umgekommenen Pferden und Mauleseln zuteil wird. Kaum den Erdlöchern entstiegen und noch auf ihr Bewußtein wartend, beginnen die „Berkshire boys“ mit den vertrauten Verrichtungen: Reinigen der Uniform, Aufräumen etc., ihren vormaligen Alltagsaktivitäten, wie sie in den Bildern der Seitenwände geschildert sind. Aber wer da Verwundete abtransportiert, Flure schruppt, Wäsche sortiert und Frostbeulen pflegt, sind nicht 30-, 40-jährige Soldaten, sondern Jungendliche, große, etwas dicklich und linkisch wirkende Kinder mit blasser, empfindlicher Haut. In pfadfinderhaft-feierlichem Ernst gehen sie – ganz und gar bei der Sache und restlos vereinnahmt von der jeweiligen Situation – ihren Tätigkeiten nach. Um so größer das Grauen, wenn man bedenkt, wie diese „Kinder“ in den von ihnen ausgehobenen Schützengräben verenden werden.

„Auf denn, Giotto!“ Mit diesem Schlachtruf hatte Spencer seine Arbeit in Burghclere begonnen.  Er hätte „Picasso“ hinzufügen können! Zwar verdankt er dem alten Meister die elementare Wucht der Darstellung, daß aber die Figuren – jede einzelne – diese besondere, das pragmatische Sehen übersteigende Deutlichkeit ins Bild bringen und ihre innere Befindlichkeit geradezu körperlich spürbar wird, ist primär seiner künstlerischen Kompetenz zuzuschreiben, geht aber auch auf Picasso und dessen Revitalisierung der Formensprache zurück. Wie dieser zielt Spencer auf präzisen Ausdruck, was angesichts seines zweiten Hauptwerks („Shipbuilding on the Clyde“,1940-1946) auf grandiose Weise zutage tritt.


"Riveters" ,Detail
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"Blending the Keel Plate"
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"Burners"
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"Riggers"
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In vier Triptychen und drei fünf Meter breiten Querformaten schildert er, gesehen aus der Perspektive des Kranführers, die Arbeit der Nieter, Takler, Klempner. Hier wie bei der Darstellung der Soldaten entzieht Spencer seine Figuren der Uniformität. Besonders dann, wenn sie in der Gruppe agieren, kommt augenfällig ihre Individualität ans Licht. Und auch bei diesen Arbeiten ergeben sich die Motive aus der Korrespondenz zwischen „inwendiger Figur“ (Dürer) und aktueller Gegebenheit: Haben sie eine Sonntagsschicht eingelegt, weil sie selbst an ihrem freien Tag auf das Abenteuer „Schiffbau“ nicht verzichten können?

Soldaten im Krieg, Arbeiter beim Schiffbau: In der Umsetzung dieser Auftragsarbeiten wird Spencers Grundimpetus erkennbar, Mitteilungen über bestimmte intensive Momente zu fixieren, in denen das Gefühl des In-der-Welt-Seins kurzfristig alle anderen Empfindungen und Vorstellungen überlagert. Ohne Substanzverlust lassen sich solche Mitteilungen nur via Kunst transportieren!

Zweifellos sind auch die in Glasgow entstandenen Werftbilder durch Cookham inspiriert.

Der Ort verkörpert für Spencer den Appell zu einem lebenslangen Dauerauftrag: dem Sensorium des Erwachsenen die während der Kindheit entwickelten Wahrnehmungskanäle offen zu halten, damit sich die Intensität früher Erfahrungen nicht verflüchtigt. Eine diesbezügliche Krise deutet sich nach den Kriegserlebnissen in Mazedonien an, löst aber eine Gegenstrategie aus. Er „verheiratet“ seine Empfindungen – eine Formulierung Spencers – mit den Plätzen und Leuten Cookhams! Via Malerei geschieht das, und die entstehenden Bilder machen zudem klar, daß es hier – noch einmal Spencer – nicht um „Kinderkram“ geht. Diese Verheiratung führt, anders als die mit der fatalen Miss Preece, zu einer Vielzahl großartiger, direkt auf Cookham bezogener Gemälde, wobei zwei Themenbereiche sofort ins Auge fallen: sakrale auf der einen Seite, profane auf der anderen. Eine solche Gegenüberstellung aber entspricht nicht den tatsächlichen Ausdrucks-Dimensionen der Bilder. „Wurstladen“, „Promenade der Frauen“ oder


"The Sausage shop", (Wurstladen), 1951
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„Liebe im Moor“ gewinnen ihre Leucht- und Anziehungskraft durch die Umsetzung dessen, was Spencer später als die „Ausdehnung der Kirchen-Atmosphäre“ auf alltägliche Sujets bezeichnet. Umgekehrt transferiert er – wenn etwa Cookhams Federvieh den mit kubistischer Grazie gestikulierenden Heiligen Franziskus anhimmelt oder die Wiederbelebten anläßlich ihrer „Auferstehung“ ungeniert gähnen, die Glieder recken und, als trauten sie dem Braten nicht, das Weite suchen – höchst irdisches Gebaren in die biblischen Geschichten.


"The Resurrection (Waking up)"
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Besonders dieser künstlerischen Taktik verdanken Spencers Arbeiten – unvergleichlich in Konkretheit, Komik, Emphase – ihre Spitzenevidenz.

Wie gut hätte Spencer, der große Kindliche, auch den folgenden Anblick malen können: Er selbst, 1958, im Buckingham Palast mit einer alten Einkaufstasche unterm Arm (in der für den Fall, daß Tee gereicht werden würde, eine Flasche Milch und Würfelzucker der Firma „Tate & Lyle“ verstaut waren) im Moment, wo er von Queen Mum zum „Commander of the Order of the British Empire“ ernannt wird.

 

 

Erschienen in Konkret 12/2009
     
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