Sollte etwas dran sein an der Theorie des
versponnenen Engländers Rupert Sheldrake, der zufolge
konzentriertes Lernen, Denken oder künstlerisches Tun am Orte
des Vollzugs sog. morphogenetische Felder entstehen läßt und
hinterläßt, die dann dortselbst quasi in der Luft liegen und
gemäß ihrer spezifischen Struktur die Ausbildung bestimmter
Ideen, Einstellungen, Aktivitäten usw. begünstigen, so hätte man
endlich eine plausible Erklärung dieses verblüffenden Vorgangs,
bei dem der Sohn eines aus der Betragne stammenden „Aufsehers
der niederen Angestellten“ im Marineministerium zum bedeutenden
Künstler wird: Das Bett nämlich, in dem Yves Tanguy am 5. Januar
1900 in Paris zur Welt kommt, gehörte vorher Gustave Courbet
(1819 - 1877), dem
künstlerisch wie politisch revolutionären „Hauptmeister des
französischen Realismus“, einem Bürgerschreck also in doppelter
Hinsicht. Ob jene morphogenetischen Impulsgeber
– die elektromagnetischen Felder, ihre physikalischen
Vettern, bringen ja durchaus einiges zustande – auch die
Fortsetzung, d.h., die Feinjustierung, den Schritt mithin zum
Surrealismus induziert haben?
Giogio de Chirico, "Das Gehirn des
Kindes", 1914
Im Jahre 1922 jedenfalls passiert Tanguy in Paris, was kurz zuvor Max
Ernst in München widerfuhr und acht Jahre später Richard Oelze
in Berlin widerfahren wird: Er gerät vor ein Schaufenster, das
für die richtungweisende Offenbarung sorgt. Er sieht Giorgio de
Chirico, den Erfinder der „Pittura metafisica“ und
Großinspirator der surrealistischen Bewegung, genauer: dessen
1914 entstandenes Ölbild „Das Gehirn des Kindes“ – einen
Erwachsenen im Bann seiner inwendigen Impressionen – und das
macht Yves Tanguy
zum Künstler.
Zum Künstler in spe! Denn inspiriert wird ein junger Mann, der
nach eigener Aussage nie zuvor einen Pinsel in der Hand -, statt
dessen anderthalb Jahre als Offiziersanwärter der Handelsmarine
und den Militärdienst bei den Afrikajägern in Tunesien hinter
sich hatte; danach diverse Tätigkeiten, u.a. die des Packers,
Boten, Börsengehilfen versah, schließlich auch vom Amt des
Straßenbahnführers – die Karambolage mit einem Heuwagen war
schuld – jäh suspendiert wurde und nun von 180 Francs im Monat
lebt, ausgezahlt vom „Amt für arbeitslose Intellektuelle“.
Was Tanguy dabei er- bzw. durchlebt, meist gemeinsam mit Jacques
Prévert, dessen Gedichte später auch deutsche Lesebücher zieren,
ist das klassische warming-up-program für angehende
Avantgardisten, wie es in Grundzügen schon Malewitsch, Natalja
Gontscharowa und die „Karo-Buben“ zu Beginn des Jahrhunderts in
Moskau absolviert und der Kunstgeschichte übergeben haben:
versehen mit dem Hinweis, daß sich Avantgardisten beim
diesbezüglichen storytelling nicht fürchten müssen vor der
altehrwürdigen Form der Anekdote!
Man experimentiert also mit sich und der Welt, sucht
Grenzerfahrungen im Alkohol-, Kokain- oder Ätherrausch, die auch
Briefkästen und Laternenpfähle einbeziehen; provoziert mitten
auf der Rue du Chateau – die No. 54 ist ihr Domizil – die
Stützen der Gesellschaft; rennt ansonsten – mit einer Passion
für den deutschen expressionistischen Film – oft zweimal täglich
ins Kino, zu Ballet-, Zirkus-, Jazzveranstaltungen. Tanguy kennt
sich aus in den Lokalitäten der Pariser Sub- und den Mythen der
bretonischen Megalithkultur und sieht – wie andere Bretonen auch
– in den Menhiren „römische Legionen, die von keltischen Göttern
zu Stein verwandelt wurden.“
Er liest „wie
verrückt“ Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé, Lautréamont,
interessiert sich brennend für Telepathie, für paranormale
Phänomene generell, für „Fantômas“, den Helden der gleichnamigen
Kriminalserie ebenso wie für die „Bildnerei der Geisteskranken“:
Partiell zumindest müssen in seinem Kopf – das vermittelt die
Punk-Frisur eines Selbstporträts aus dem Jahre 1925 –
haarsträubende Zustände geherrscht haben!
Bei seiner „Treue zur Verrücktheit“ – und bestimmt lag
auch „Les Champs Magnétique“ (Mitautor: André Breton) zeitweilig
unter seinem Kopfkissen – ist anzunehmen,
daß er vor der Sheldrakeschen Theorie nicht kapituliert hätte.
"Toter, seine Familie belauernd", 1927
Wie diese kuriose Gestimmtheit zum
Treibsatz eines rasanten Starts in die Kunst wird und einen
Arbeitsprozeß evoziert, der im Wechselspiel von Introspektion
und Formfindung schließlich zu Bildwerken der absoluten
Extraklasse führt, daran erinnert die Staatsgalerie Stuttgart in
einer umfassenden Retrospektive zu Tanguys 100. Geburtstag. Zu
sehen sind 80 Gemälde, 50 Arbeiten auf Papier, darunter einige
Exemplare der „Cadavres exquis“, jener „Köstlichen Leichname“,
die 1925 als Gemeinschaftsproduktion („jeu surréaliste“) mit
Tanguys Beteiligung entstehen. Dabei auch – sie gehören zu den
rund 20 Arbeiten anderer Surrealisten – zwei sehenswerte, in
Deutschland kaum bekannte Ölbilder der vormaligen Prinzipessa di
San Faustino, Marchesa Bourbon del Monte Santa Maria, die nach
ihrer Heirat mit Tanguy (1940 in USA) wieder als Kay Sage
firmiert.
„Fantômas“ gegenüber der
Eingangstür, ein düsterer, dilettantisch fabrizierter
Bilderbogen aus dem Jahre 1925 über nächtliches Großstadtleben
inklusive einer ins Schwarz gekratzten „ektoplasmischen
Materialisation“, die in Horror-Comics auch heute noch
gelegentlich auftaucht, eröffnet die Begegnung mit Tanguy. Und
angesichts dieser Arbeit wird augenblicklich klar, daß er bei
den Neusachlichen in Karlsruhe etwa so schnell nicht zu ersten
Meriten gekommen wäre. Anders bei den Surrealisten, deren
Manifest erst ein paar Monate auf dem Markt ist! Da noch keiner
weiß, welchen Dialekt „die Sprache der Seele“ wählen wird, in
welcher Form sich „die Allgewalt des Traums“, das „reine Denken“
artikulieren werden, zugleich aber alle auf ein eher naives,
unmittelbares, „automatisches“ Hervorbringen in kindlicher
Direktheit setzen und den – was immer das sei - „freien
Ausdruck“ favorisieren, kommt ihnen Tanguy, ein ernsthafter
Autodidakt, wie gerufen: André Breton, Spiritus rector der
Bewegung, erkennt das Potential des vier Jahre jüngeren Mannes
und wird sein verbalisierender Wegbegleiter.
Tanguys sofortige Reaktion: Er zerstört den größten Teil der bis
dahin entstandenen, von Futurismus und Kubismus, von Grosz,
Miro, Klee und den
Stummfilmen der frühen 20er Jahre beeinflußten Arbeiten und malt
„blindlings einem Antrieb aus dem Innersten“ folgend, nächtliche
Gefilde, Dünen im Dunst und anderweitig vernebelte Landstriche,
in denen („Toter, seine Familie belauernd“) gespenstische
Erscheinungen sitzen, schweben, schwimmen, wobei magische
Zeichen und phallische Objekte die Szenerie künstlich
verrätseln, da Form und Farbe, die genuinen Hausmittel der
Malerei, erst andeutungsweise funktionieren.
"Mama, Papa ist verwundet", 1927
Für
ein Bild dieser Serie
allerdings, die erstmals im Sommer ´27 („Yves Tanguy et objets
d´Amérique“) in Paris gezeigt wird, gilt diese Einschränkung
nicht: „Mama, Papa ist verwundet!“ lautet der Titel und er
bezieht sich auf das Jahr 1914 und den nächtlichen Ausruf eines
Jungen in genau dem Moment, wo viele Kilometer entfernt (ich
kenne solche Geschichten von meiner Großmutter aus der
Oberlausitz!) sein Vater von einer Kugel getroffen wird. „Aber“
– so die vollständige Sentenz – „er ist nicht tot“.
Von
den Personen und Vorfällen der titelgebenden Story ist nichts
zusehen. Stattdessen – postiert in einer zwischen aschgrau und
rosa changierenden immateriellen Weite – ein halbes Dutzend
plastische Gebilde der Kategorie „Halma-Figur“. Deutlich
konturiert, deutlich präsent, deutlich auch als plötzliche
Hervorbringung dieser „Landschaft“ erkennbar, erscheinen sie in
heller Beleuchtung, die schlagartig da ist wie nach einem
abziehenden Gewitter: die Prototypen seiner „Objekt-Wesen“, die
von da an Tanguys Bildwelten besetzen! Art und Weise ihres
Auftritts zeigen an, daß nun die Bildmittel Regie führen und sie
liefern auch sofort einen eleganten Beweis ihrer formalen
Fähigkeiten. Eine schwarz-grau melierte Wolke nämlich
– auch von der Mache her ein Relikt aus den Anfängen –
wird am rechten Bildrand des imaginären Feldes verwiesen:
Evoziert durch den markanten Horizont (und einen anthropomorphen
Kaktus, der den Betrachter nach hinten, gewissermaßen an den
Start holt) vollzieht das Auge eine in Leserichtung gehenden
Bewegung, die der Wolke einen optischen Schub verpaßt!
Mit
der „Vertreibung“ des schwarzen Dunstes – die Schlagschatten der
„Objekt-Wesen“ geben ihm den Rest – geht die Periode der
„fumes“, der Rauch- oder Nebelbilder, zuende. Was nach dieser
Phase entsteht, verzichtet auf Symbole, denn die Bildmittel
implantieren den traumhaften Fundstücken, die hier im Prospekt
einer „mentalen Landschaft“ zum Vorschein kommen, spirituelle
Energie.
Fungieren
sie als Sender suggestiver Signale, als Relaisstationen
vielleicht? Haben sie oder ihresgleichen veranlaßt, daß der Sohn
die Mutter über den Vater informierte?
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Oder auch, daß ca. zehn, zwölf Zwanzigjährige – am Morgen des 9.
Januar 2001 noch weiträumig verteilt auf Stuttgart und Umgebung
– nachmittags allesamt in dunkler Hose, schwarzer
Kopfbedeckung und schwefelgelbem, rückseitig bedrucktem T-Shirt
(etwa das Manifest?) in der Staatsgalerie vor Tanguys Bildern
erscheinen (und dabei offensichtlich einer Falschmeldung
aufsitzen, denn der schwarze Bowler ist Markenzeichen Magrittes,
nicht Tanguys)?
Vielleicht wäre sie anders zu formulieren, aber die Frage stellt
sich durchaus. In der Cafeteria spätestens, nachdem man die
Verabschiedung der menschlichen Figuren, der Fauna und Flora und
die Auflösung atmosphärischer Gegebenheiten registriert- und mit
zunehmender Faszination der geräuschlosen Besetzung des
leergefegten, befremdlich wirkenden Terrains durch jene
„undefinierbaren Gebilde“, ihrer Vermehrung und permanenten
Metamorphose beigewohnt hat, spätestens dann hat man vor Augen,
was diese „Figuranten“
auch sind: eine
Provokation! Wie könnte man sie sehen bzw. begreifen – heute,
100 Jahre nach Nietzsches Tod und 101 Jahre nach Abschluß von
Freuds „Traumdeutung“?
1916 werden sie erstmals fabriziert, und zwar von Hans Arp, der
sich durch Fragmente ausgebleichter Holzknüppel, die er an
Schweizer Seen findet, durch verwittertes Strandgut und
abgeschliffene Steine anregen läßt. Vereinfacht, in Form
unregelmäßiger Ovale, tauchen sie in Papiercollagen und farbigen
Holzreliefs auf. Zehn Jahre später etwa landen sie in Paris,
zunächst bei Miró, später bei Tanguy und Dalí. Man wird sie
einer Verbeugung begrüßt haben, denn endlich – bis dahin
geisterten sie nur als verbale Fiktionen durch ihre Köpfe:
Lautréamont etwa spricht von einsamen Stellen im Mondenschein,
wo „alle Dinge gelbe, unbestimmte phantastische Formen
annehmen.“ Apollinäre erfindet „visuelle Lyrismen“, Artau
„Methaphern in drei Dimensionen“.
Natürlich ist auch bekannt, was sie bewirken sollen. Bereits
Gustave Flaubert – gern zitierter Kronzeuge der Surrealisten –
beschrieb die Gefahren durch zunehmende Banalität, Rationalität,
durch Fortschritt und Pragmatismus und forderte: „Man muß mit
allen Mitteln einen Damm gegen die Flut von Scheiße bauen, die
uns bedroht.“ Und Paul Eluard weiß sogar die Methode: Zu
versuchen sei, „mit den Dingen, die sind, zu brechen und in
voller Aktivität und Genese andere an ihre Stelle zu setzen.“
"Das Gewitter (Schwarze
Landschaft)", 1926
Tanguys Das
Gewitter(Schwarze Landsschaft) aus dem Jahr 1926 präsentiert
ein entsprechendes Objekt in Form eines braunen Haufens, aber es
wirkt noch wie der Versuch, den Teufel mit dem Beelzebub
auszutreiben. Schon die folgenden Abwandlungen haben eine
gänzlich andere Ausstrahlung. Bezüglich des Materials erinnern
sie an verblichene Knochen, an Steine, Plastik, Metall oder
tropfende Schokolade. Tanguy selbst spricht von „rosa Plüsch in
der Größe einer Menschenhand“, von „gespreßter blaßgrüner
Watte“, „fleischfarbenem weichen Wachs“ und
„transparent-perlmutternem Zelluloid“ etc. Der Gestalt nach
nehmen sie Verbindung auf zu den erwähnten Menhiren der Bretagne
wie zu Organismen im Frühstadium ihrer Genese, zu
archäologischen Fundstücken oder schwebenden Wasserklumpen in
einer Raumkapsel. Sie besitzen die Aura des Aufbruchs
und partizipieren an
der bildhaften Kraft plastischer Urformen. Mit ihnen, kurzum,
ist zu rechnen im avisierten „Prozeß gegen die reale Welt“
(Breton, 1924).
"Wunder der Meere", 1936
"Tage der Trägheit", 1937
Der
beginnt in den 30er Jahren, denn von da entstehen die
„eigentlichen Tanguys“, Bilder wie
Wunder der Meere (1936), Tag
der Trägheit (1937); dann, bereits in den USA,
The Indefinite Divisibility (1942),
The Hunted Sky (1951) und
Multiplication of he Arcs, ein Gemälde, das 1954, ein Jahr
"Unbestimmte Teilbarkeit", 1942
vor Tanguys Tod fertig wird und ohne Zweifel zu den Top Ten des
20.Jahrhunderts gehört. Es sind die „pays mentaux“ (ab 1939:
mindscapes), ausgedehnte Farbregionen ohne Horizont, submarine
Landschaften und evokativer Grund, aus dem seine Objekte
erwachsen und ihr geheimnisvolles
"Der gejagte Himmel", 1951
Spektakel vorführen. In immer
neuen Ausbildungen entfaltet sich das phantastische Potential
jener Prototypen. Neben den räumlichen und meteorologischen
Gegebenheiten ihres Auftritts verändern sich ihre Konsistenz,
Größe, Form, Farbe, Oberfläche, ihre Anzahl sowie die Art des
Zusammenspiels der Objekte. Sie erscheinen ohne gängiges
Erkennungsmerkmal, erinnern nicht an Tischbein, Eselsohr,
Türklinke, sind also provokant der pragmatisch-praktischen Sicht
entzogen. Desgleichen bleibt ihr Bild, da sie emblematische
Bedeutungen auf Distanz halten, vor spekulativer Betrachtung
verschont. Befreit von gängigen Sinnzusammenhängen, profanen wie
elitären, bringen sie ihre fremdartige, merkwürdig anrührende
Schönheit störungsfrei an den Betrachter. Mit überwältigender
Resonanz geschieht das angesichts des erwähnten Bildes
Multiplication of the Arcs,
das den unpathetischen Blick auf eine Landschaft zeigt, eine
Akkumulation Tausender vielfältig geformter Objekte: Ausschnitt
einer erdumfassenden „nature morte“, von oben, aus großer
Entfernung gesehen und gestochen scharf „fotografiert“.
Beziehen Tanguys Bilder ihre Wahrheit, Wirkung, Schönheit aus
der Entscheidung, die ungegenständliche Welt der Stimmungen und
Ideen in Form plastischer Objekte darzustellen, ihnen Status,
Präzision und Gewichtigkeit von Dingen zu geben?
Von
der „Dingwerdung des Imaginativen“ spricht Marianne Kesting in
diesem Zusammenhang. Aber sind Traumbilder das Ergebnis?
Vielleicht kann man sich heute von dieser surrealistischen
Konvention lösen und das landläufige „Traumbild“ als
Großmetapher sehen, die dem technisch-zivilisierten 20.
Jahrhundert den Kontakt ermöglicht zum „Strand, der unter dem
Pflaster liegt“ und ansonsten von Verkörperungen sprechen,
genauer: von Objektivierungen mentaler Befindlichkeiten. Die
nämlich werden nicht durch Träume ausgelöst, sondern durch
visuelle Vorstellungen à la Dürers „inwendiger Figur“ oder C.D.
Friedrichs „Bild des geistigen Auges“. Beteiligt an diesem
Prozeß ist, mehr als der Traum des Erwachsenen, was auch de
Chirico wußte, „Das Gehirn des Kindes“!
Konkret
3/2001
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